http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1893/0203
Horn: Die wahrscheinliche Ursache der Unähnlichkeit etc. 197
nun die Neigung des Mannes zu der Frau grösser, als
umgekehrt, so wird das Kind mehr die Züge der Mutter
tragen, weil der psychische Eindruck der Vorstellung in
dem Zeugungsprozesse zur Geltung kommt. Ist dagegen die
Liebe der Frau zum Manne grösser, so wird das Kind dem
Vater gleichen. Ist die Neigung gegenseitig, so wird das
Kind die Züge beider Eltern annehmen. Geht nun aber
der Zeugungsact in einem dunklen Räume vor sich, so
erhält die Phantasie durch die Entziehung des persönlichen
Anblicks Gelegenheit, von der Wirklichkeit abzuschweifen
und selbstthätig Bilder zu schaffen. Dann wird bei gegenseitiger
Neigung freilich die Phantasie nicht zur Action
kommen, da die Gewohnheit und das Gefühl den geliebten
Gegenstand vor das innere Auge bringen. Wird aber
einer der Gatten durch die Neigung zu einer dritten
Person abgezogen, so wird diese sich in seine Vorstellung
drängen, so dass sich der Prozess psychisch mit der vorgestellten
Person, wenn auch physisch mit dem Gatten
vollzieht. Diesen Vorgang kann man den psychischen
Ehebruch nennen. Dass überhaupt die Vorstellung der
Mutter auf die Beschaffenheit des Kindes von Einfluss ist,
zeigen manche Beispiele, wo ein psychischer Affect der
Mutter an dem Körper des Kindes in bezeichnender Weise
zu Tage getreten ist. Verkörpert sich nun die Vermischung
der Züge dieser vorgestellten dritten Person mit denen der
Gatten oder eines von ihnen, so wird dadurch die Unähnlichkeit
des Kindes mit den Eltern herbeigeführt und
hinreichend erklärt.
Auch in diesem Vorgang erkennt man zweifellos die
wohlgemeinte Absicht der Vorsehung, einer zunehmenden
Gleichförmigkeit der Individuen vorzubeugen und einen
zeitweiligen Wechsel zu befördern; denn die Einförmigkeit
ist ein Attribut der Ruhe, die ihre Vollendung im Tode
findet, während die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit
eine unabweisliche Bedingung des Lebens sind. So bringt
eine ethische Sünde — denn so dürfen wir wohl vom
allgemein sittlichen Standpunkt aus den psychischen Ehebruch
bezeichnen — einen physischen Fortschritt hervor,
insofern sie die Unähnlichkeit befördert und dadurch die
Selbstständigkeit der Individualität unterstützt und hebt.
Auch das Ideal der Schönheit geht auf diesem Wege
seiner Verkörperung rascher und sicherer entgegen. Wenn
einer von beiden Gatten sich durch Mangel an Schönheit
auszeichnet und die Vorstellung des anderen im Zeugungsact
eine Neigung zu einem dritten schönen Individuum zur
Geltung bringt, so wird das Kind nicht die hässlichen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1893/0203