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358 Psychische Studien. XXXIX. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1912)
seinem eigenen Gesichtspunkt, und so erscheinen ihm seine
philosophischen Gegner im Grunde genommen als seine
besten Freunde. Er trägt kein Verlangen, sie abzuschlachten
oder zu verbrennen. Seine allgemeine Toleranz
beruht nicht auf schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber
denen, welche anders denken als er, sondern auf der
Achtung vor ihren Bemühungen, die seine eigenen Bestrebungen
ergänzen, auf der Dankbarkeit für die Einsichten
, die sie ihn neben der selbstgewonnenen Einsicht
finden lassen. Und man glaube nicht, daß die philosophischen
Ideen mit den Perspektiven, welche sie für Welt
und Leben eröffnen, das Einzelgut einer Elite bleiben
werden! Vor und nach werden sie auch die allerkleinsten
Geister in ihren Bann ziehen. Sie mischen sich mehr und
mehr der intellektuellen Atmosphäre bei, in der alle atmen.
Die Gedanken eines Descartes, eines Voltaire, eines
Bousseau, eines Kant erfüllen gewissermaßen die Luft,
welche uns umgibt. Eine Menge geistig Niedriggestellter,
welche niemals diese Namen aussprechen gehört haben,
unterliegen doch unbewußt dem Einfluß philosophischer
Ideen, da diese die zeitgenössische Zivilisation, ihr eigen
Werk, völlig durchtränken. Es ist, dank sei den Denkern,
unterm Himmel und im menschlichen Bewußtsein allmählich
denn doch etwas anders geworden! Nichts geht
verloren, alles breitet sich aus. Selbst die scheinbar abstraktesten
Ideen gewinnen schließlich durch die ihnen
innewohnende Kraft Fleisch und Blut und werden bei allen
Menschen lebendig. Das ist das wahre Mysterium der
Inkarnation. *)
*) Das in obigen trefflichen Ausführungen über die Philosophie
Gesagte trifft ganz besonders für deren Teilerscheinung, ihm
Okkultismus, zu, der ja mehr als irgend eine andere geistige Bestrebung
die Aufgabe und zugleich auch die Kraft besitzt, Völker
und Rassen mit einander zu verbinden. — Red.
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