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Kaindl: Ueber negativen und positiven Eudämonismus. 189
in welcher es sich befindet. In den Völkern der uralten Zeit
waren die Ahnungen des verlorenen Göttlichen im Menschen noch
heller und reiner, daher ihre uns so außerordentlich und wunderbar
erscheinenden Erkenntnisse der Natur und der Wahrheit, die
wir jetzt noch mit den schwersten Verstandesmühen zum Teil
nicht eri eicht haben. Erst nachdem die zunehmende sogenannte
Wellbildung und mit ihr die Welt- und Sinnenlust einen höheren
Grad erreicht, verweltlichte sich die Seele vollends, die Geistesblicke
von oben wurden seltener, und mit immer entschiedenerer
Gewalt usuipierte der Verstand die Herrschaft des Geistes im
Menschen, verdrängte das sittliche und religiöse Streben, und vermaß
sich zuletzt, um das Verderben des Abfalls auf die höchste
Spitze zu treiben, alles Höhere über sich leugnend, sich selbst alb
Qbttheit zu proklamieren. Dieser traurige Zustand der Menschheit
ist in unserer Zeit in der Wissenschaft hauptsächlich durch
die Begriffsvergötterung der Tagesphilosophie und die in die Theologie
eingeführte neueste Mythologie des Christentums am
schroffsten repräsentiert, so wie sein Dasein im Leben durch weit
verbreiteten gänzlichen Erdensinn, Ineligiosität, Frivolität und
wirkliche Gottesfeindschaft sich bemerklich macht. Der Verstand
und seine Ausbildung ist unserem Zeitalter das Höchste; in ihm
allein findet dasselbe Geist, Leben und Wahrheit. Daher kommt
es auch, daß jetzt das Wort »verständig* mit ,geistvoll' identisch
genommen wird, und daß alle höheren Erscheinungen des Geistes
des Menschen oder Gottes im Zeitleben entweder dem Verstand
zugeschrieben, und aus ihm erklärt werden, oder noch kürzer, unbeachtet
gelassen oder geleugnet werden. Erscheinungen, welche
ihren gewöhnlichen Gesetzen und Kreisen sich nicht anpassen,
weiden kurzweg in die Rubrik ,Unsinn* oder »Betrug* gesetzt, sc
schlagend und unwiderleglich auch immer die äußern und innern
Zeugnisse für ihre Wahrheit sprechen mögen.4* —
Wie man sieht stimmt der Sündenfall der Mythe, welcher in
naturphilosophischer Betrachtung „nichts anderes ist als ein Versuch
des Endlichen, für sich als Absolutes zu bestehen und sich
vom Göttlichen zu trennen,** mit der Tatsache einer exklusiven
Entwicklung des Intellekts bis ins Extrem der Selbstvergötterung,
wie sie uns Werner hier darstellt, in auffallende; Weise überein.
Dieben Gipfelpunkt des Egotheismus, der zugleich der Gipfelpunkt
aller Torheit ist, hat unsere Zeit im Übermenschen Nietzsche'?
glücklich erreicht, und Lenau hat uns in seinem Faust diese Ausgeburt
des menschlichen Intellekts mit dichterischem Seherblick
vorher verkündet:
»Mein Faust, ich will dir einen Tempel bauen.
Wo dein Gedanke ist als Gott zu schauen.
Du sollst in eine Felsenhalle treten
Und dort zu deinem eigenen Wesen beten.
Dort wirst du's einsam finden, still und kühl;
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