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Psychische Studien.
Monatliche Zeitschrift,
Vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des
Seelenlebens gewidmet.
44. Jahrg. November 1917
I. Abteilung.
Historisches und Experimentelles.
Richard Wagner als Mystiker.
Von Hofrat Prof. Max Seil ing, München.
(Schloß von Seite 433)
Auf Siegfried, den Gewinner des Hortes, mußte Parsit
al, der Diener des Grales, folgen. Es ist eine ganz oberflächliche
, ja verkehrte Behauptung, daß Wagner mit seinem
„asketischen" Parsifal dem herrlichen Naturkinde und
deutschen Heldenideale Siegfried untreu geworden sei. So
wie uns .Parsifal zuerst entgegentritt, gleicht er dem tatenfrohen
und furchtlosen Siegfried auf ein Haar. Während
aber dieser fallen muß, weil er, „unkund seiner selbst*, sich
nicht über die Natur erheben kann, gelangt Parsifal — die
Ausgestaltung Siegfrieds — durch die Macht des Mitleides
zu einem höchsten Wissen, vermöge welches er die Natur
zu bändigen und sich zum wahrhaft freien Herrn der Triebe
zu machen vermag. Immerhin ahnt Siegfried das Unheil,
das der Sturz in den Sinnestaumel, die trügerische Hingabe
an die .Natur, für ihn zur Folge haben wird; denn diese
Ahnung ist der verborgene Grund dafür, daß nur eine Frau
ihn das Fürchten gelehrt, und zwar ist es das Fürchten vor
sich selbst — eines der psychologischen Meisterstücke
Wagners. Euft Siegfried doch beim Anblick Brünnhildes,
die sich später selbst das „wild wütende Weib* nennt, aus:
„Brennender Zauber zückt mir ins Herz* und „sehrendes
Sengen zehrt meine Sinne*. Er ahnt, daß die Leidenschaft
plötzlich entfesselt werden und ihn ins Verderben stürzen
könnte, wie es denn seine ungestüme Hingabe an Gutrune
auch getan.
Mit „Parsifal*, dieser Krönung der Menschheitsentwicklung
, erreicht Wagner als Mystiker namentlich deshalb
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