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236 Psychische Studien. XL VI. Jahrg. 4.-5. Heft (April-Mai 1919)
ist zu fadenscheinig, um nicht die Blöße einer engherzigen Absonderungssucht
hindurchblicken zu lassen.
Das Heil der Völker, die, von Natur aufeinander angewiesen,
sich gegenseitig ergänzen, liegt aber nicht in ihrer Absonderung
und einer daraus entstehenden Entfremdung und Feindseligkeit,
sondern in ihrer Vereinigung und Eintracht. Das Unheil, welches
ihnen aus ihrer Trennung und Zwietracht erwächst, ist ihnen in
diesem blutigsten und kostspieligsten aller Kriege so fühlbar geworden
, daß sie auf die Idee verfielen, der Wiederholung eines
solchen Übels durch Gründung eines Völkerbundes vorzubeugen.
Da aber der wahre Grund ihrer Sonderung und Entzweiung
weniger in ihren nationalen Gegensätzen liegt, also vielmehr in
ihrer unersättlichen, grenzenlosen Habgier, so bleibt es
mehr als zweifelhaft, ob dieses Mitte! von Erfolg gekrönt sein
wird. Bemerkenswert ist — was besonders die Völkischen beherzigen
mögen —, daß diese wahrhaft teuflische Gier, die jedes
bessere menschliche Gefühl in sich erstickt, wie ein ekelhaftes
fressendes Geschwür nicht nur im Fleische eines fremden, sondern
auch in dem des eigenen Volkes mit gleicher
Stärke wütet Der wilden Habgier der Menschen Zaum und
Zügel anzulegen, oder sie auch nur einigermaßen einzudämmen,
dürfte heute um so schwerer gelingen, als die aus ihr erwachsene
niederträchtige Gesinnung, die alle zivilisierten Völker heute in
gleichem Maße schändet, sich gewissermaßen schon systematisiert
hat und unter den Namen Utilismus, Merkantilismus oder
Kommerz;alismus als wissenschaftlich begründet ihr Daseinsrecht
beansprucht. Die auf diese Weise salonfähig gewordene
Niedertracht ist also durch Selbsterkenntnis kaum zu überwinden.
Auch ist eine Selbsterkenntnis dort am allerwenigsten zu erwarten,
von wo aus die menschliche Habgier und ihre Entwicklungsformen
der Utilismus, Kapitalismus und Merkantilismus, allein erfolgreich
bekämpft werden könnten, weil jene, welche durch ihre leitende
Stellung hierzu berufen wären und über die hierzu nötige Macht
verfügen, nach Tolstoi noch viel habgieriger, durchtriebener und
gewissenloser zu sein pflegen, als die übrigen. Die Hoffnungen,
welche man heute auf den Völkerbund gründet, dürften sich daher
mit Rücksicht auf den niederen moralischen Zustand und die rein
merkantile Denkungsart der modernen zivilisierten Menschheit in
der Folge als ziemlich trügerisch erweisen. — Hat man der zivilisierten
Menschheit je einmal ihr wahres Spiegelbild vorgehalten,
so hat sie sich wohl darüber entrüstet, aber mit nichten gebessert.
Jonathan Swift, der dies versuchte, hat von dieser Entrüstung
profitiert; seiiuSpiegelbild vom Menschen ist aber so getreu, daß
ich mir nicht Ibrsagen kann, einige wesentliche Züge hier anzuführen
, indem ich die betreffenden Schilderungen zwanglos wiedergebe
: „Wenn ihr fünf Yähus — so nennt Swift das Menschentier
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