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50 Psychische Studien. L. Jahrgang. 2. Heft. (Februar 1923.)
unterscheiden wir jetzt an ihm eine obere, untere, vordere,
hintere, rechte und linke Seite, also eine symmetrische Anordnung
, wie sie unser eigener Körper besitzt.
An einem Pol des Keimes wächst nun eine lange Röhre
von Zellen in das Innere und berührt nach einigen Stunden,
indem sie sich stetig verlängert, das gegenüberliegende Ende
des Keimes. Die Entwicklung dieser langen Röhre von
Zellen ist als Beginn der Bildung des Darmes und seiner
Anhänge anzusehen. Die Larve des Seeigels heißt nun
nicht mehr Blastula, sondern führt den Namen „Gastrula"*
Im Entwicklungsstadium der Blastula und Gastrula
unternahm nun Driesch Versuche am Seeigelembryo, die
zur Grundlage seiner besonderen Anschauungen auf das
Leben wurden. Wenn Driesch auf dieser Entwicklungsstufe
des Embryo diesen in zwei Teile zerschnitt, so entstand nicht
aus jedem Teile eine Halborganisation, wie dies nach Versuchen
, die vorher Roux machte, zu erwarten wäre, sondern
aus jeder Hälfte entwickelte sich wieder eine vollkommene,
ganze, nur kleinere Gastrula. Durch neue Umordnung dei
Substanz, also eine Art „Regenerationu, entsteht wieder
ein normaler Embryo
Durch die Versuche am Seeigelei hat Driesch die Meinung
Weismanns widerlegt, daß im Embryo schon räumlich
das ganze Individuum fertiggebildet vorläge. Durch die
Möglichkeit, ein normales Individuum aus jedem beliebigen,
abgetrennten Teile zu erhalten, war der Beweis erbracht, daß
die künftigen Teile des Organismus im Embryo nicht räumlich
nebeneinander gelagert sind (wie die Teile einer Maschine
), sondern daß dieselben alle, gleichzeitig überall vorhanden
sind. Jeder, auch der kleinste Teil des Embryo
hat in sich die Möglichkeit, Ganzes zu werden, und dadurch
unterscheidet sich grundsätzlich ein Organismus von allen
mechanischen Maschinen-Systemen. Wesen und Ursache
der Organbildung sind denn nicht in den räumlichen anatomischen
und physiologischen Elementen zu suchen, sondern
in einer unbekannten, intimen Struktur des Protoplasmas,
die jedem, auch dem geringsten Teile des Eies eigen ist,
und morphologische Systeme, die in allen Teilen die gleiche
Potentialität besitzen, nennt Driesch: harmonisch-äquipoten-
tielle Systeme.
Mit diesen Systemen hat Driesch den fundamentalen
Beweis für die Autonomie der Lebensprozesse geliefert. Jn
welchem Maße derartige Systeme im Reiche des Organischen
verbreitet sind, und vor allem, ob auch der menschliche
Embryo ein solches äquipotentielles System darstellte konnte
wegen der Unmöglichkeit, mit einem lebenden mensch-
liehen Embryo zu experimentieren, nicht festgestellt.werden.
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