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Verweyen: Kultur und Mystik.
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dies in psychologischer Hinsicht bezüglich der Quellen des Schaffens,
der Wachstumsbedingungen des Künstlers wie auch im Hinblick auf
das künstlerische Gebilde als solches.
Ungleich mehr als von den Durchschnittsmenschen gilt von den
Schaffenden — insbesondere den Künstlern —, wenn nicht von allen,
so doch sicherlich von vielen, wenn nicht den meisten, und hervorragendsten
— daß ihre Entwicklungsgeschichte die Geschichte ihrer
Liebe darstellt, und je nach ihrer Wesensart in verschiedenem Grade
das Gebiet der Mystik berührt. Gewinnt die Erotik auf dem Höhepunkte
ihrer Entfaltung durch ihre Anknüpfung an die tiefsten Quellen
des Lebens, gleichsam durch ihr erlebtes Hervorquellen aus ewigen
Gründen, einen mystisch-metaphysischen Charakter, so bietet sie in
dieser Ausprägung besonders günstige Bedingungen des Schaffens. In
solchem Falle gelangt die allgemeine Tatsache, daß die Liebe den Menschen
belebt und beschwingt, ihn froh stimmt und ihm Fittiche zu
Taten leiht, zur höchsten Ausprägung. Eine ganze Welt mystischschöpferischer
Versenkung ruht in den Namen Dantes und Beatrices,
Goethes und Frau v. Stein, Wagners und Mathilde Wesendonk. Dantes
Dichtung vita nuova (neues Leben) weist in dieser Hinsicht auf einen
realen und zugleich sinnbildlichen Zusammenhang. Das ganze Lebenswerk
der göttlichen Komödie wurzelt schließlich in der aus mystischen
Eros-Erlebnis fließenden Versicherung, „von ihr sagen zu können, was
noch von keinem Weibe gesagt sei". Beatrice blieb der eigentliche
mystische Lebensmittelpunkt im Schaffen Dantes und empfing in seinem
Hauptwerke die ihr gebührende Führerrolle. Goethes Lyrik und
Richard Wagners Tristan bieten weitere Beispiele großen Stiles. Gerade
der Bayreuther Meister bekannte mit Freimut und Selbstbescheidung
, daß er dieses Werk nur durch die Kraft der geliebten Frau geschaffen
habe, mit der er in täglicher mystischer Zwiesprache verbunden
war.
Die künstlerischen Gebilde selbst — wenn nicht alle, so doch bestimmte
unter ihnen wie namentlich die lyrischen — erschließen sich
nur dem, der mit phantasiebegabtem Auge sie erschaut, eines besonderen
Maßes der Einfühlung und des Nacherlebens fähig ist, mithin
über mystische Organe verfügt, die dem reinen Verstandesmenschen
fehlen. Die Faust-Dichtung bleibt in zahlreichen Partien unverständlich
für den, der sich nicht zu dem mystischen Sinn des anderen Goethewortes
aufzuschwingen vermag: „Weltseele, komm' uns zu durchdringen
! Mit dem Weltgeist selbst zu ringen, wird unserer Kräfte Hochberuf
!'' Mystische Bereitschaft setzen auch Fausts Worte an den „Erhabenen
Geist" voraus, der ihm nicht nur „kalt staunenden Besuch
vergönnt", sondern ihm gestattet, in die tiefste Brust der Natur ,,wie
in den Busen eines Freundes" zu blicken. Dem mystikarmen Menschen
ist St. Franziskus" Hymnus auf „Schwester" Sonne und „Bruder" Mond
unzugänglich. Ihm sind Worte und Weisen in der Tristan Dichtung
wie Musik leerer Schall, gleichsam ein oberflächliches Geräusch mehr
oder weniger harmonischer Akkordverbindungen. Gerade hier handelt
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