http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/retzius1896-1/0011
VORWORT.
— aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.
Gcethe.
Und der Mensch ist v. A. sein Gehirn.
Das Menschenhirn, das grösste Wunder der ganzen Schöpfung, verdient gewiss mehr als jedes andere Ding
der belebten und unbelebten Natur eine in die feinsten Details eindringende Untersuchung und Darstellung.
Das Organ der menschlichen Seele ist auch seit Alters her ein Lieblingsstudium der Anatomen gewesen,
und sogar Philosophen ersten Ranges, wie Descartes, haben es zuweilen nicht als »unter ihrer Würde» erachtet,
sich durch eigene Untersuchungen eifrig zu bemühen, die Geheimnisse der Organisation dieses wundervollen
Organsystems dem Blick zu erschliessen.
So lange das Mikroskop und die mikroskopische Technik noch nicht zu den Errungenschaften der menschlichen
Cultur gehörten, musste die Thür der »geheimnissvollen Gemächer der Seelenwohnung» der Forschung
verschlossen sein. Man versuchte aber, durch immer eingehendere Untersuchungen der Oberfläche und der Höhlen
des Gehirns die allgemeine Gestaltung des Organs und der dasselbe zusammensetzenden, makroskopisch eruirbaren
Theile zu erforschen. Eine Menge Beschreibungen und Benennungen der einzelnen Theile des Gehirns, v. A. derjenigen
der Basalregion und der Höhlen, stammen aus alter Zeit her.
Was die Furchen und die Windungen anbelangt, so gelang es aber erst den Anatomen der Mitte unseres
Jahrhunderts, den Faden in den scheinbar so verworrenen Irrgängen zu finden. Nachdem v. A. Gratiolet das
erlösende Wort ausgesprochen und den Grund zu der Erforschung dieses Problems gelegt hatte, ist man auf diesem
Gebiete immer weiter fortgeschritten, so dass nunmehr die dasselbe betreffende Litteratur einen recht ansehnlichen
Umfang erhalten hat.
Ncachdem aber das Mikroskop nicht nur erfunden, sondern immer mehr vervollkommnet worden war, und
die mikroskopische Technik die Schwierigkeiten, die sich sowohl der Härtung der Organe und der Gewebe
als der Deutlichmachung der Gewebselemente entgegenstellen, mittelst.ausgezeichneter Färbungsmetoden immer
siegreicher zu bewältigen vermochte, ist die Erforschung der Structur des centralen Nervensystems in seinen
feinsten Einzelnheiten eines der höchsten Ziele der modernen Histologie geworden.
Golgi's und Ehrlich's weittragende Erfindungen von Färbungsmethoden, durch Avelche specielle Elemente
des Nervensystems in ihrer Lage, Gestalt und Ausbreitung demonstrirt werden können, haben schon durch die
wundervollen Entdeckungen von Golgi selbst, v. A. aber durch diejenigen von Ramon y Cajal und den Forschern
, welche sich ihm bald anschlössen, von Kölliker, von Lenhossek, van Gehuchten, Dogiel u. A. — eine
Revolution in der Lehre vom feineren Bau des centralen Nervensystems und der Sinnesorgane durchgeführt.
Ich selbst habe mich schon früh der Schaar dieser Pioniere angeschlossen und das Problem sowohl mit der
EHRLiCH'schen, wie mit der GoLGi'schen Methode im Reiche der Wirbelthiere und der Wirbellosen von mehreren
Seiten angegriffen. In dieser Weise bin ich dazu gekommen, mich noch einmal — nach einer Frist von zehn
Jahren — mit einem eingehenden Studium des Menschenhirns zu befassen.
Dabei fand ich — es war im Jahre 1887 —, dass auch unsere Kenntniss von dem makroskopischen Bau
des Menschenhirns, sowohl des sich entwickelnden, als des erwachsenen, trotz der vielen, bis dahin ausgeführten Unter-
suchuno-en noch recht lücken- und mangelhaft war. Mit Studien über die feinere Structur der Oberfläche des
Gehirns, v. A. der Basalregion und der Ventrikel beschäftigt, überzeugte ich mich auch, dass es für eine genauere
Bestimmung der zu untersuchenden Localitäten, an mehreren Stellen des Gehirns nothwendig war, diese
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