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II
eingehender, als es bis dahin geschehen, zu beschreiben, weshalb ich mich entschloss, in Zusammenhang mit
der Mikroskopie auch der Makroskopie des Organs Untersuchungen zu widmen.
In dieser Weise ist das hier vorliegende Werk entstanden. Eine Reihe anderer, meistenteils den feineren Bau
des Nervensystems der Vertebraten und der Evertebraten betreffender Untersuchungen haben diese Arbeit zeitweise
unterbrochen und zur Seite geschoben. In den neun Jahren, welche verflossen sind, seit ich dieselbe
in Angriff nahm, ist indessen die Wissenschaft auch auf diesem Gebiete nicht stille gestanden. Als ich z. B. im
Jahre 1887 mit der Untersuchung der foetalen Entwicklung des menschlichen Gehirns begann, lagen verhältnissmässig
wenige eingehende und umfassende Arbeiten über diesen Gegenstand vor.
Zwar waren in den vorzüglichen Werken von Tiedemann, v. Kölliker, Fr. Schmidt, v. Mihalkovics,
Reichert, Pansch, Bischoff und Ecker die grossen Züge und auch viele Einzelprobleme erörtet worden, doch
harrte noch eine bedeutende Menge von Fragen ihrer Lösung. Aus vielen der veröffentlichten Figuren war
auch ersichtlich, dass man im Ganzen selten schöne und wirklich naturgetreue Präparate zur Disposition gehabt
hatte, was leicht zu verstehen ist, da zur Härtung der foetalen Gehirne meistentheils nur Alkohol und Chlorzink
benutzt wurden, welche Härtungsflüssigkeiten gerade bei diesen Organen nicht vortheilhaft wirken. Bei Besuchen
in mehreren grösseren anatomischen Museen des Continents überzeugte ich mich auch, dass die präparirten
foetalen Menschenhirne sich in einem wenig befriedigenden Härtungszustand befanden.
Ich suchte deshalb schon von Anfang an, besser geeignete Härtungsmethoden kennen zu lernen, und
es gelang mir auch bald, in der Chrom-Essigsäuremischung (gewöhnlich mit etwas Ueberosmiumsäure versetzt,
also in einer etwas modincirten Fx,EMMiNG'schen Mischung), welche in die Nabelvenen oder die Aorta eingespritzt
wird, eine für das foetale Menschenhirn ausgezeichnete Härtungsflüssigkeit zu finden. Bei vorsichtiger Oeffnung
der Schädelhöhle sah ich, schon kurz nach der Injection, die sonst so weiche foetale Gehirnmasse ganz erstarrt.
War das Material frisch und der Kopf des Foetus bei der Injection in symmetrischer Lage gehalten Avorden,
so war das Gehirn in schöner, symmetrischer Gestalt erhalten und dann leicht herauszupräpariren. In dieser
Weise erhielt ich in einigen Jahren vom embryonalen und foetalen Menschenhirn in verschiedenen Stadien der
Entwicklung eine ansehnliche Sammlung guter Präparate, und ich fing dann sogleich an, dieselben orthoskopisch
abbilden zu lassen.
Nun sind aber, seit ich meine Untersuchungen begann, von anderen Forschern mehrere Arbeiten erschienen,
welche das betreffende Gebiet behandeln. Vor Allein ist über die Formentwicklung des menschlichen Gehirns in den
ersten beiden Monaten eine ganze Reihe classischer Untersuchungen von His veröffentlicht worden. Und was
die spätere Foetalzeit betrifft, so sind auch über sie mehrere Arbeiten erschienen, von denen ich hier besonders
die von Mingazzini, Cunningham und Marchand hervorheben will. Dadurch ist Manches, was ich zu besprechen
beabsichtigte, schon in genauer Weise behandelt.
In Anbetracht dessen habe ich allmählig den Plan des vorliegenden Werkes mehrfach verändert. Ich hatte
mich auch schon längst entschlossen, die ersten beiden Monate des intrauterinen Lebens vollständig auszuschliessen,
zumahl es sich als besonders schwer erwies, aus diesen Monaten gutes, frisches und normales Material zu bekommen
. Ich beabsichtigte deshalb, im Anschluss an die Arbeiten von Iiis, das foetale Menschenhirn vom 3.
Monate bis zur Geburt morphologisch zu bearbeiten, d. h. die Formentwicklung desselben vom 3.—10. Monate zu
verfolgen. Da indessen auch in den seit dem Anfang der Arbeit verflossenen Jahren auch auf diesem Gebiete
manche Fragen von anderen Forschern eingehend besprochen worden sind, habe ich mich in einigen Hinsichten
beschränkt und besonders solche Probleme behandelt, welche mir als noch zu wenig berücksichtigt erschienen.
Ich habe also nicht die Absicht, hier eine vollständige Darstellung des fraglichen Gebietes zu liefern, sondern v. A.
einige dunklere Fragen zu behandeln, und zwar in so kurzgefasster Weise, wie es mir für jede besondere Frage
zweckmässig erscheint.
Es war erst meine Absicht, hin und wieder Streifzüge auf vergleichende anatomische Gebiete zu machen,
und ich hatte zu diesem Zwecke im Laufe der Jahre auch eine recht bedeutende Sammlung von Thierhirnen
zusammengebracht. Es erwies sich aber als nöthig, diesmal von einer solchen Erweiterung des vorliegenden
Gegenstandes abzustehen, da das Werk schon mit der jetzigen Umfassung zu einer recht ansehnlichen Grösse
angewachsen ist.
Dagegen war es von Anfang an meine Absicht, die Behandlung der Formverhältnisse des erwachsenen
Gehirns nur auf gewisse Partien zu beschränken. Beim Fortschreiten der Arbeit fand ich mich aber veranlasst,
die für dieselbe bestimmten Grenzen immer mehr zu erweitern, so dass zuletzt die meisten Partien des Organs in
die Untersuchungsreihe eingezogen wurden. Bei der Beschreibung der einzelnen Theile werde ich jedoch solche
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