http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/retzius1896-1/0019
I
Zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen
Gehirns.
Durch die bahnbrechenden und classischen Untersuchungen von His über die Formentwicklung des menschlichen
Gehirns in den ersten Monaten ist unsere Kenntniss von diesem überaus wichtigen Problem in hohem
Grade erweitert und vertieft worden. Die bisher veröffentlichten Arbeiten dieses Forschers erstrecken sich im
Allgemeinen über die ersten zwei Monate und theilweise auch etwas darüber hinaus. In der fraglichen Zeit
durchläuft das Gehirn in Betreff seiner Formentwicklung eine ganze Reihe grundlegender Stadien, aus welchen
die nachfolgenden hervorgehen und ihre Deutung erhalten können.
Was nun die basalen Theile des Gehirns betrifft, so werde ich, im Anschluss an die Erörterungen von
His, Einiges über ihre weitere Entwicklung vom 3. Monate ab mittheilen. In den ersten drei Monaten spielen
sich in diesen Partien zwar die wichtigsten Formengestaltungen in so weit ab, als nach Verlauf dieser Zeit einige
— obwohl nicht hinsichtlich der Grösse — gewissermassen abgelaufen und die meisten der Hauptsache nach so
angelegt sind, dass man sie im Grossen und Ganzen von einander zu unterscheiden vermag. Dies gilt v. A.
von den einzelnen Theilen der Boden- und der Deckplatte von His, deren eigentliche Entwicklung bekanntlich im
Allgemeinen früh abgeschlossen ist und die nur in rudimentärer Beschaffenheit fortbestehen; aber auch in der Grund-
und der Flügelplatte von His, der ventralen und dorsalen Hälfte des Gehirnrohres, erkennt man nach dem Ablaufe
des 3. Monates schon die grundlegende oberflächliche Gestaltung der sich später so grossartig entwickelnden
Theile.
l. Lamina terminalis.
Ich fange mit den in der Mittellinie gelegenen Partien, und zwar mit der vorderen Endplatte derselben,
der Lamina terminalis, an, in welcher jedenfalls die vorderste Spitze der Mittelachse des Gehirnrohres zu suchen
ist, sei es nun, nach v. Kupffer, an ihrer oberen Grenze (im Lobus olfactorius impar von v. Kupffer oder
Angulus terminalis von His), oder, nach His, in der Nähe ihrer unteren Grenze, im Recessus opticus.
Die die Lamina terminalis enthaltende Partie stellt bei menschlichen Embryonen in dem 3. und 4. Monate
eine verhältnissmässig starke Hervorragung der Gehirnwand dar. Es zeigt deshalb das Gehirn, wenn man es
von unten sieht, vor dem Chiasma eine rundliche Ausbuchtung, welche, nach oben hin etwas zugespitzt, in der
Mantelspalte zwischen den Hemisphären emporragt, wie dies in mehreren Figuren der Taf. I (Fig. 2, 7, 14, 18, 42),
der Taf. II (Fig. 2, 6, 11) und der Taf. XXXII (Fig. 1) zu sehen ist. In der Fig. 1 der Taf. XXXIII habe ich diese
Partie von einem 15 Cm. 1. Embryo (vom 4. Monate) in 3-maliger Vergrösserung genau abbilden lassen. In der Mitte
dieser bombirten Partie findet man eine medial gestellte, graulich erscheinende, durchsichtige Lamelle mit etwa
retortenahnlicher Contour, welche Lamelle ungefähr wie ein dünnes Fenster ein^efü^t ist. Ich werde die äussere
Oberfläche der ganzen bombirten Partie, deren Wand von der Lamina terminalis gebildet wird, als Area terminalis
bezeichnen: der äusserst dünne, mediane Theil, Avelcher in der Lamina wie in einem Rahmen eingefasst
ist, mag Fenestra lamincß terminalis heissen. Diese bei Embryonen constant vorkommende, dünne, durchsichtige,
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