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Die Forscher, Avelche die Entwicklung der Fossa Sylvii am eingehendsten behandelt haben, sind Reichert,
Ecker, Pansch, v. Mihalkovics, Broca, Guldberg, Cunningham und Marchand. Nachdem die zuerst genannten
Anatomen die wichtigsten Züge dargelegt hatten, hat Cunningham eine genauere Untersuchung ausgeführt und
die früheren Darstellungen theilweise berichtigt. Ich werde hier nicht auf die ganze litterarische Geschichte eingehen
, sondern hauptsächlich nur die Beschreibungen der beiden letztgenannten Verfasser besprechen.
Nach Cunningham 1 ist die Gestalt der Fossa Sylvii zuerst beinahe kreisrund, sodann verlängert sie sich in
senkrechter Richtung und biegt sich nach hinten, eine dreieckige Form annehmend, auf sich selbst zurück. Die
hervorschiessende, die Grube umgebende Mantelkante oder das Gebräme wird durch auftretende Winkel in vier
Abtheilungen getheilt, nämlich in eine temporale, eine fronto-parietale, eine frontale, welche durch die Abflachung
des primitiven ersten vorderen Winkels entsteht, und eine orbitale. Jede dieser Partien des umgebenden Ge-
brämes wächst unabhängig von den übrigen; dadurch entstehen vier Opercula, welche über die Fossa Sylvii hinauswachsen
, um sie einzuschliessen. Das temporale und das fronto-parietale Operculum entstehen zuerst; das
frontale und das orbitale entwickeln sich viel später. Die sog. drei Schenkel der Fissura Sylvii werden durch
das Zusammentreten der herauswachsenden vier Opercula gebildet. Das frontale Operculum entspricht dem »Cape
de Broca» und zeigt nicht nur grosse Variationen, sondern es kann sogar vollständig fehlen; wenn es nur der
Länge nach reducirt ist, bieten die zwei vorderen Schenkel der Fissur die Y-förmige Anordnung dar. — Sobald
die Fossa Sylvii entstanden ist, nimmt sie schnell, viel schneller als die übrige Hemisphäre, an Umfang zu. In
dem intra-uterinen Leben hat das vordere Ende der Insula Reili eine im Verhältniss zum Vorderende des
Gehirns beinahe fixe Lage, wogegen das hintere Ende schnell nach dem Occipitalpole hin wächst. Nach der Geburt
ist das hintere Ende der Insula fixirt, während das vordere etwas oscillirt, zuerst dem Vorderende des Gehirns
genähert, dann wieder von ihm entfernt ist. Der vordere Schenkel der Fissura Sylvii ist dadurch charac-
terisirt, dass er die ganze Dicke des Operculums durchschneidet und den Sulcus circularis Reili erreicht; er entspricht
dem primitiven Winkel und liegt hinter dem Sulcus prrecentralis inferior. — Die sogen, hintere Insula
ist nicht, wie Eberstaller angiebt, mit dem Ende des Temporallappens, sondern mit dem Lobus limbicus vereinigt
. — An der Oberfläche der Insula entstehen drei radiirende Furchen, welche in jeder Hinsicht den drei
radiirenden Primärfurchen des Palliums (Sulcus prsecentralis, centralis und postcentralis) entsprechen; sie gehören
offenbar zu demselben Furchensystem wie diese und werden am Rande des fronto-parietalen Operculums durch
intermediäre sekundäre Furchen zusammengehalten. — Der Temporalpol wird vollständig durch das Hervorwachsen
des Temporaloperculums gebildet.
Ich gehe jetzt zu meiner eigenen Darstellung der Fossa und der Insula über. Im zweiten Monate kann man
bei dem embryonalen menschlichen Gehirn kaum von einer Fossa Sylvii sprechen. Es ist zwar (Taf. I, Fig. 3,
4, 9, 10, 11 und 12) eine schwache Einbiegung der unteren Fläche der Hemisphäre vorhanden; eine wirkliche
Fossa lässt sich aber, ungeachtet das Corpus striatum schon in der Entwicklung begriffen ist, nicht unterscheiden.
Im Anfang (Taf. I, Fig. 14 und 15), mehr aber noch in der Mitte des 3. Monates (Taf. I, Fig. 19, 22, 23 und
25) vergrössert sich diese Einbiegung und nimmt zuweilen schon eine halbmond- oder nierenförmige Gestalt an;
in anderen Fällen ist sie in der Mitte dieses Monates nur in spitzwinkliger Form zu sehen (Taf. I, Fig. 28 und
29), die sie bis zum Ende des Monates behalten kann (Taf. I, Fig. 38); in wieder anderen Fällen (Taf. I, Fig.
33 und 35) zeigt sie zwischen ihren Schenkeln schon eine eingesenkte, abgeflachte Partie, welche als die erste deutliche
Manifestirung der Insula aufgefasst werden muss. Im Anfang des 4. Monates (Taf. I, Fig. 43 und 45) ist
die eingesenkte halbmondförmige Partie oft schon deutlicher ausgeprägt. In anderen Fällen aber (Taf. II, Fig. 7
und 12) ist noch am Ende des 4. Monates die Anlage der Insula weniger deutlich markirt, indem die Fossa
Sylvii nur als eine Falte oder eine sehr spitzwinklige Einbiegung erscheint. Beim Uebergang in den 5. Monat
(Taf. II, Fig. 16 und 20) wird das eingesenkte Insulafeld schnell breiter, und es tritt in halbmondförmig-dreieckiger
Gestalt auf, indem sich der hintere, spitzere Winkel nach hinten hin verschiebt. In der ersten Hälfte des
5. Monates (Taf. III, Fig. 3, 7, 11, 12 und 16; Taf. VIII, Fig. 3) tritt die dreieckige Gestalt der Fossa Sylvii
und der Insula, hier und da mit Anlehnung an die Halbmondform, immer deutlicher hervor. Wie die Fig. 3, 7
und 11 der Taf. VIII zeigen, wechselt die Gestalt der Fossa, resp. der Insula schon in diesem Stadium nicht
unbedeutend, und zwar von einem etwa gleichschenkligen Dreieck bis zu einem solchen mit zwei längeren und
einem kurzen Schenkel; der vordere-obere Winkel ist gewöhnlich am meisten abgerundet. Gegen die Mitte
und mehr noch in der zweiten Hälfte des 5. Monates fangen die umgebenden Hirnpartien an, sich wallartig zu
1 D. J. Cunningham, Contribution to the Surface Anatomy of the Cerebral Hemispheres. Cunningham Memoirs N:o VII, 1892.
Royal Irish Academy.
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