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kaum möglich ist, von ihnen eine für alle Fälle geltende Darstellung zu geben. Bald hängen die Striae mediales
mit den Fasciolae cinerea} deutlicher zusammen, bald ist dieser Zusammenhang mehr verwischt,
Was die Gyn subcallosi betrifft, so habe ich schon oben darauf hingewiesen, dass sie sich in ziemlich
verschiedener Weise verhalten können. In den Fig. 16, 17 und 18 der Taf. XXXII sind drei Variationen dargestellt
, und an den vielen, durch directe Photographie wiedergegebenen Medianschnitten sind mehrere andere
Formen zu sehen. Nach vorn und lateralwärts von der Lamina rostralis und der Lamina terniinalis (ebenso der
Lamina praacommissuralis) befinden sich die etwas abgeplatteten weisslichen Stränge, die, vorn von der Fissura
prima begrenzt und medialwärts durch den tiefen Sulcus subcallosus medianus von einander getrennt, beiderseits,
wie oben beschrieben wurde, in die diagonalen Bänder Broca's auslaufen. Einen der gewöhnlichsten Typen stellt
die Fig. 18 der Taf. XXXII dar. Am oberen Ende der Fissura prima ist die Grenze oft etwas verwischt, und
zuweilen tritt hier ein zweiter, kleiner Gyrns hinzu, der mit dem Gyrus subcallosus zusammenhängt und ihn
mitunter mit dem Vorderende des Gyrus cinguli verbindet.
III. Die Oberflächen-Morphologie des Palliums der
Hemisphären.
Nachdem man immer bestimmter nachgewiesen hatte, dass die Furchen und Windungen des menschlichen
Gehirns in ihrem Auftreten und ihrer schliesslichen Anordnung, wenigstens in den Hauptzügen, gewissen erkennbaren
Gesetzen folgen, haben sich viele Forscher bemüht, diese Gesetze festzustellen und die scheinbar so
verworrenen Furchen- und Windungscomplexe in ihre Elemente aufzulösen.
Hierfür standen hauptsächlich zwei Wege offen. Erstens das Studium des Menschengehirns für sich, und
zwar sowohl ontologisch durch Berücksichtigung der Entwicklungsverhältnisse, als durch Zusammenstellung der
verschiedenen Variationen, welche bei dem erwachsenen Gehirn vorkommen, und zweitens die Vergleichung des
Menschenhirns mit demjenigen der Thiere, v. A. der höheren Affen. Bekanntlich sind durch beide diese Methoden
viele wichtige Thatsachen entdeckt und erläutert worden.
Und doch linden sich auf diesem so wichtigen Gebiet der morphologischen Forschung noch so viele ungelöste
Probleme, noch so viele streitige Ansichten, dass man sich, trotz der zahlreichen, ausgedehnten und
eingehenden Arbeiten auf demselben, noch ängstlich fragen muss: »Giebt es denn, die Hauptzüge ausgenommen,
wirklich für die gesammte Anordnung der Furchen und Windungen des Gehirns allgemeingültige morphologische
Gesetze?»
Jeder Biologe, der sich mit diesem Gegenstande beschäftigt hat, wird durch die Ueberzeugung von der
Hochwichtigkeit desselben immer wieder zu seinem Studium verlockt, obwohl er immer wieder an Grenzen
gelangt, wo ihm die bekannten Worte entgegen tönen: »Bis hierher und nicht weiter!» Und wenn er dann
endlich eine Anzahl von Thatsachen festgestellt zu haben glaubt, wird er durch neue Beobachtungen oft wieder
sehwankend und unsicher. Für wenige Gebiete sind die berühmten Worte des griechischen Philosophen: »Panta
rei» mehr passend als für dieses. Es kommen so viele Variationen vor, dass man trotz alles Suchens nicht
weiss, wo und wie man den Schlüssel zu ihrem Entstehen und Verstehen finden soll.
So ist es denn auch mir ergangen. Viele Jahre hindurch habe ich mich hin und wieder mit diesem
Studium beschäftigt und dabei die verschiedensten Angriffspunkte versucht, in vielen Punkten aber immer
wieder die alte Antwort erhalten: Bis hierher und nicht weiter! Es hängt die Schwierigkeit hier meistens
nicht vom Mangel an geeignetem Material, auch nicht von den Untersuchungsmethoden u. dergl. ab. Es ist die
scheinbar gesetzlose »Variabilität», welche die Hindernisse darbietet. Diese Variabilität ist in verschiedenen
Regionen des Menschenhirns in der That so gross, dass es sich kaum lohnt, für dieselben bestimmte Formeln
und Schemata festzustellen zu suchen — so lange man nicht die eigentlichen massgebenden Bildungso-esetze
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