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kennt. Wie viel man auch nach den »mechanischen» Bedingungen gesucht hat, so herrscht hier noch immer das
Mysterium. Es liegt offenbar ein äusserst complicirtes Problem vor. Durch einseitige Erklärungen wird es nicht
gelöst. Aeusserer Druck von der Schädelkapsel und den Blutgefässen kann zwar zum Theil zur Gestaltung der
Oberfläche des Gehirns beitragen. Das Wesentliche liegt jedoch sicherlich nicht darin. Es sind »innere» Wachsthumsbedingungen
vorhanden, welche die Hauptrolle spielen, und ich stimme vollständig in die Aeusserung Eber-
staller's ein: »Nun halte ich es trotz der das Gegentheil heischenden jüngsten Studie von Seitz für eine ausgemachte
Sache, dass die Bildung der Hirnwindungen nicht aus äusseren Gründen, und durch mechanische Einflüsse
der Umgebung, z. B. Schädelgehäuse, Blutgefässe u. dergl. erfolgt, sondern aus inneren Bedingungen, und
dass die relative Grösse eines Rindenbezirkes Hand in Hand geht mit seiner functionellen Inanspruchnahme. Vom
anatomischen Standpunkte kann man das mit gutem Gewissen behaupten und durch eine Unzahl von Beispielen,
die sowohl der Hirnanatomie, als jenen anderen Gegenden des Körpers entnommen sein können, belegen; nur über
die physiologische Dignität der Theile im Sinne der Localisationstheorie sind wir annoch zu wenig unterrichtet.»

Es giebt in gewissen Partien der Hirnrinde offenbar eine stärkere Wachsthumsenergie, welche wohl mit der
physiologischen Bedeutung, der speciellen Function derselben in engem Zusammenhang steht. Tn Folge dieser
Energie wölben sich gewisse Partien hervor und bilden die sogen. Faltungen der Hirnoberfläche. In der Regel
scheint man die Furchen als das massgebende, das wichtigere Moment zu betrachten. Dies kann jedoch nicht
richtig sein. Für die morphologische Feststellung der verschiedenen Regionen und das Kartiren derselben sind
die Furchen sehr wichtig. Sie müssen aber als das mehr passive Moment im Wachsthum der Hirnoberfläche
betrachtet werden, während die Erhebungen, die Windungen, dem activeren, dem sich hervorwölbenden, energischer
hervorwachsenden Moment entsprechen. Man hat in Betreff des Wachsthums des Menschenhirns offenbar
den Begriff des mechanischen Faltens zu weit ausgedehnt, wenigstens was die permanenten Furchen und
Windungen anlangt. Das meiste hängt hier von lokalen Verhältnissen, von verschiedener, vererbter Wachsthumsenergie
der einzelnen Bezirke ab. Denn, dass die Vererbung auch hier eine grosse Rolle spielt, ist wohl sicher.
Leider ist es uns noch nie gelungen, die Hirnconfigurationen durch mehrere Generationen hindurch zu verfolgen.
Ich habe mir lange diese Aufgabe gestellt, bis jetzt aber vergebens. Zwar gelangen bisweilen Gehirne von
Zwillingsfoetus in unsere Hände, die im Allgemeinen eine recht verschiedene Anordnung der Furchen darbieten.
Es können aber diese Verschiedenheiten von dem verschiedenen Gehirntypus der beiden Eltern herrühren. Denn
es ist doch sehr wahrscheinlich, dass die Anordnung der Windungen und Furchen des Gehirns von den Eltern

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ebenso wohl auf die Kinder vererbt wird, wie die Form der Nase und der Ohren. Leider lässt sich dieses interessante
Problem in einiger Ausdehnung nur durch langdauernde, durch Generationen fortgesetzte Untersuchungen
oder in Ausnahmefällen, z. B. zu Zeiten von verheerenden Epidemien verfolgen. Es sollte ihm aber Aufmerksamkeit
geschenkt werden, und zwar von Aerzten, welche Gelegenheit haben, das nöthige Material aufzubewahren.

Nun erübrigt aber noch die wichtige Frage zu eruiren, in wie weit die verschiedene Anordnung der Windungen
und Furchen des Gehirns, cl. h. die grosse Variabilität, die Variationstendenz in der Gestaltung der
Rindenoberfläche, als echt morphologisclies Merkmal anzusehen ist, d. h. man bat zu eruiren, was als ein allgemeingültiges
, was als ein »individuelles», also mehr zufälliges, auf Grund von kulturellen u. a. Ursachen stattfindendes
Variiren zu betrachten ist. Jedenfalls sind wir aber durch die schönen Entdeckungen auf dem Gebiete
der Localisationslehre, also in Betreff der Function der verschiedenen Bezirke, sicher darüber unterrichtet worden,
dass die Windungen und Furchen hinsichtlich ihrer eigenen Anordnung den functionellen Organen nicht genau
entsprechen. Im Gegentheil, wir sehen solche Organe über die einzelnen Windungen und Furchen hinausgreifen
und Stücke der angrenzenden Theile einnehmen. Im Grossen und Ganzen ist es jedoch, wenn man die ontolo-
gische Ausbildung der verschiedenen Functionsgebiete berücksichtigt, im höchsten Grade interessant zu erfahren,
dass dieselben in gewisser Reihenfolge und in Verbindung mit bestimmten Furchen- und Winclungscomplexen
entstehen. Zuerst differenzirt sich solchergestalt im Gehirn das Organ des Geruchs, das Rhinencejjhalon, offenbar
das von den niedrigsten Stadien unserer chordaten Vorfahren in erster Linie vererbte, phylogenetisch sich zuerst
und am intensivsten entwickelnde Sinnesorgan. Das Rhinencephalon trennt sich vom Pallium ab und zeigt beim
Menschen schon sehr früh — im 3. und 4. Monate — die ersten Anlagen der Furchen und Windungen. Nachher
sieht man, im 5. Monate, die Region des Sehorgans stärker wachsen und die dieselbe einschneidende erste Anlage
der permanenten Fissura calcarina sich ausbilden. Hierauf fängt, am Ende des 5. und im 6. Monate, die cerebrale
motorische Region an, sich zu clifferenziren, indem sich jeclerseits von ihr der Sulcus centralis zeigt und zu
beiden Seiten von ihm sich die die motorischen Centra enthaltenden Centraiwindungen zu erheben anfangen.
Damit fällt Avohl auch die Ausbildung der Centraiorgane der Sensibilität zusammen, oder es tritt dieselbe bald


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