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Hiermit habe ich eine zweite Reihe von Erscheinungen berührt, welche unter dasselbe Hauptgesetz gehören.
An den Enden stärkerer, d. h. vor Allem tieferer Furchen entstellen sehr oft, ja sogar fast regelmässig, in einiger
Entfernung von einander compensirende Querfurchen. An dem medialen Ende der Centraifurche findet man also
an der medialen Hemisphärenwand das hinterste Stück des Sulcus cinguli, und zwar oft in der Gestalt eines
Halbringes, welcher mit seinem hinteren, tieferen und stärkeren Ende das Ende der Gentraifurche in normaler Weise
umkreist und zuweilen sogar hoch an der Aussenfläche der Hemisphäre emporsteigt. Entweder bildet dann der
Sulcus praecentralis medialis (Eberstaller), welcher dem Sulcus paracentralis Schwalbe's entspricht, den vorderen
Arm des Halbringes, wobei auch das mediale Ende des Sulcus prajcentralis superior von dem Halbringe
eingefasst wird, oder auch stellt eine besondere kleine Furche des Paracentrallappens das Complement des Halbringes
dar. Fig. 2 der Taf. XIX giebt ein schönes Beispiel eines solchen Halbringes. Fig. 8 der Taf. XVI und
Fig. 6 und 7 der Taf. XVII sind ebenfalls vortreffliche Beispiele von demselben Gesetze.
Weitere Beispiele sind leicht an mehreren Stellen des Gehirns nachzuweisen. An dem oberen Ende der
Fissura parieto-occipitalis entsteht fast constant eine halbringförmige, tiefe Furche. Fig. 7 und 9 der Taf. XI
zeigen dieselbe in ihrer ersten Entwicklungsphase; Fig. 1 der Taf. XVI und XVII veranschaulichen ein etwas späteres
Stadium; Fig. 1 der Taf. XX, Fig. 3 der Taf. XXIV und Fig. 2 der Taf. XVIII beleuchten dieselbe Thatsache in
schöner Weise. Die hier besprochene Furche verbindet sich bekanntlich oft mit dem Sulcus interparietalis und
bildet seine Pars posterior s. occipitalis. Sie stellt aber im Ganzen ein selbstständiges Furchenelement dar.
Zu diesen compensatorischen Querfurchen kann man nun auch das frühe, am unteren-äusseren Rande des
Operculum parieto-frontale auftretende System kleinerer Furchen rechnen, welche je eine unter dem unteren Ende des
Sulcus centralis, S. postcentralis und S. prajcentralis vorkommen, obwohl durch das starke Wachsthum des Opercular-
walles in sagittaler Richtung eine Coinplication der Verhältnisse, eine Art »Faltenbildung» der intensiv Avachsenden
Rinde auch von vorn nach hinten eintritt, wodurch die genannten Querfurchen oft eine schiefere Lage erhalten.
Es kommt aber an der Oberfläche des Gehirns noch eine, schon von Eberstaller und Cunningham gelegentlich
erwähnte andere, dritte Art von Compensation der Theile vor, indem nämlich eine Furche auf das Gebiet
einer anderen vordringt und sie gewissermaßen zurückdrängt, oder indem beim Schwächerwerden einer Furche eine
Nachbarfurche auf ihr Gebiet hervordringt und sie gewissermassen ersetzt. Beispiele dieser Art von, wie ich es
nennen will, vikariirender Comj)ensation kommen äusserst oft vor; diese Compensation trägt in hohem Masse zu
den Entstehen der zahlreichen Variationen der Furchen- und Windungsanordnung bei. Natürlicherweise stellen
auch hier die Furchen die passiven, die umgebenden Windungen wesentlich die aktiven Elemente dar.
Als eine vierte Art der Compensation führe ich noch diejenige Anordnung auf, welche die sogennanten
tertiären Windungen und die sie trennenden Furchen an den versteckten Seitenflächen der Windungen darbieten.
Wenn man eine der grösseren, tieferen Furchen öffnet, sieht man die kleinen Windungen dieser Seitenflächen
der Gyri fast immer transversal angeordnet und von der Furchenöff'nung bis an den Grund der Furche ziehend,
wobei sie sich, über den Grund hinlaufend, allmählig verschmälern und entweder bald zwischen den Nachbarfurchen
eingekeilt endigen, oder erst eine Strecke zwischen ihnen an der entgegengesetzten Wand emporsteigen.
Die angrenzenden Furchen bieten dasselbe Verhalten, obwohl in entgegengesetzter Richtung dar. In dieser Weise
werden die beiden an einander liegenden Seitenflächen der Windungen mit einem System von kleineren Windungen
und Furchen besetzt, welche eine alternirende Grösse darbieten und in einander gefasst sind. Es wird gewissermassen
eine Zickzack- oder, richtiger, eine Zahnrad-Anordnung erreicht, so dass jede zweite Windung oben, an
der Mündung der Furche, höher und breiter, unten, am Grunde der Furche, schmäler ist, während die Fläche
der gegenüberstehenden Windung ein compensatorisches Verhalten darbietet. Diese Zahnradcompensation ist in
den meisten grösseren, namentlich aber in langen, unverzweigten Furchen, so z. B. im Sulcus temporalis superior
, im Sulcus centralis und im Sulcus cinguli schön ausgebildet, doch wird sie durch die Verzweigung der
Furchen, resp. das Zusammenfliessen derselben, complicirter, ist aber fast immer, wie z. B. im Sulcus interparietalis
, in ausgeprägtem Zustande vorhanden. Nun kommt es hin und wieder auch vor, dass einzelne dieser zahnradartigen
Querwindungen an die Oberfläche der Furchen rücken und, falls sie stark ausgebildet sind und von
dem Grund der Furche emporragen, diese Furchen abschneiden, indem eine offene, oberflächliche Brückenwindung
■— ein echter Gyrus transitivus — die beiden die Hauptfurche begrenzenden Windungen der Quere nach mit
einander verbindet. Diese Ueberbrückungen sind aber, wo sie vorkommen, bekanntlich meistentheils schon von
Anfang an angelegt gewesen, was das Studium der foetalen Gehirne hinreichend beweist.
Hinsichtlich der Erklärung der soeben beschriebenen zahnradartigen Querwindungen der grösseren Furchengebiete
kann man nicht umhin, die Ausbildung derselben mit mechanischer Druckwirkung in Verbindung zu
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