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Tafel LIY.
Zwei Gehirne von Erwachsenen, in der Ansicht von oben, als Beispiele von einem sehr
verschiedenen Windungstypus zusammengestellt.
Fig. 1 stellt das Gehirn eines 37-jährigen Mannes dar.
Fig. 2 ist das Gehirn eines 29-jährigen Weibes.
In dem männlichen Gehirn liegt ein echtes Beispiel von Eurygyrencephalie, in dem iveiblichen ein solches von Steno-
gyrencephalie vor. Die Gehirne der ersten Art werden gewöhnlich als windungsarm, die der zweiten als windungsreich
bezeichnet. Dies ist zwar auch oft der Fall, indem bei denen mit schmalen Windungen oft die sogen, tertiären Furchen und
Windungen zahlreicher sind und Verzweigungen öfter vorkommen. Es ist aber dieses Verhältniss nicht ganz gesetz-
mässig; die fragliche Anordnung hängt nämlich auch von der allgemeinen Grösse des Gehirns ab; grosse Gehirne können
gleichzeitig breite und zahlreiche Windungen enthalten und kleine Gehirne schmale und sparsame Windungen haben.
In der Regel sind indessen die Gehirne mit breiten Windungen in ihrer Anordnung einfacher gebaut und für das
Studium der Hirnwindungen im Allgemeinen sehr lehrreich, weil sie mehr »typisch» oder »schematisch» als die anderen
sind; es ist an ihnen leichter, die Anordnung herauszufinden; sie stehen auch im Ganzen in ihrer Furchen-und Windungsanordnung
den Affenhirnen näher und sind leichter mit diesen im Einzelnen zu vergleichen.
Das in Fig. 1 abgebildete Gehirn zeigt eine einfache Anordnung, aber doch mehrere Eigenthümlichkeiten. Die
beiden Sulci centrales zeigen starke Kniebildung und am oberen Ende eine noch stärkere Biegung nach hinten als sonst;
der rechte Sulcus hängt mit dem Salcus prcecentralis superior zusammen. Hechts ist der Sulcus prsecentralis superior mit
dem Sulcus prcecentralis inferior vereinigt; der Sulcus prcecentralis medialis ist rechts weit auf die Dorsalfläche emporgestiegen
und hat den Sulcus prsecentralis superior, — falls man dieses Furchenstück nicht lieber als ein abgetrenntes mediales
Stück der Präcentraifurche ansehen will, das mit dem S. prsecentr. medialis vereinigt ist — gewissermassen nach der
Seite hin verdrängt. Links schneidet der S. prsecentralis superior in die Mantelkante hinein (und steigt eine Strecke an
der Medialfläche hinab); dieser Fall lässt sich aber auch in der Weise auffassen, dass sich der S. prsecentr. medialis mit
dem S. prsecentr. superior vereinigt hat, was sonst in den von mir untersuchten Hemisphären äusserst selten vorkommt.
Rechts setzt sich der Sulcus frontalis superior von der oberen Prsecentralfurche weit nach vorn hin fort, und der Gyrus
frontalis superior ist hinten ausserordentlich breit, vorn sehr schmal; auf dieser Windung ist ein gerader Sulcus mesialis
vorhanden. Links ist dasselbe der Fall, indem sich hier der Sulcus frontalis superior durch Brücken (Wurzeln), die von
dem Gyrus frontalis medius kommen, unterbrochen zeigt. — Am Scheitellappen sieht man beiderseits eine sehr starke und
weit nach aussen einschneidende Incisura s. cinguli mit der sie umgebenden, ungewöhnlich ansehnlichen Bogenwindung,
dem Gyrus arcuatus anterior des oberen Scheitelläppchens. Der Sulcus parietalis superior scheint deshalb nur rudimentär
entwickelt zu sein; die ihm angehörige Bogenwindung ist vorhanden, aber weniger typisch; dagegen ist der Gyrus arcuatus
posterior mit seiner Incisura parieto-occipitalis stark ausgebildet. Der Sulcus postcentralis ist beiderseits einheitlich
und mit dem Sulcus interparietalis (proprius) vereinigt. Die Bogenwindungen der unteren Scheitelläppchen sind auch recht
typisch.
Das in Fig. 2 abgebildete weibliche Gehirn scheint bei dem ersten Anblick recht complicirt zu sein. Die Furchen
und Windungen sind mehr schlingernd, die Secundär- und Tertiärwindungen zahlreicher und kräftiger vertreten. Jedoch
gelingt es bald, die Verhältnisse herauszufinden. Die .Kniebiegungen der Sulci centrales sind vorhanden, der rechte Sulcus
centralis hängt mit dem unteren Theil des Sulcus postcentralis zusammen. Der Sulcus prcecentralis superior ist rechts in
zwei Stücke getrennt, von denen das laterale mit dem Sulcus frontalis superior, das mediale mit dem langen und ziemlich
tiefen Sulcus mesialis vereinigt ist; der Sulcus prcecentralis inferior hängt mit dem Sulcus frontalis inferior zusammen.
Links ist der Sulcus prcecentralis superior in zwei Stücke getrennt, von denen das mediale etwas in die Mantelkante einschneidet
, während das laterale rosettenartig verästelt und weder mit dem einheitlichen Sulcus frontalis superior, noch
mit dem Sulcus prcecentralis inferior vereinigt ist. Ein Sulcus mesialis ist auch hier vorhanden, doch besteht er nur aus
getrennten Stücken. Der Sulcus prcecentralis inferior hängt mit dem Sulcus frontalis inferior zusammen. Der Sulcus postcentralis
ist beiderseits einheitlich und mit dem Sulcus interparietalis (proprius) vereinigt, doch hat sich beiderseits von
dem S. postcentralis, sowohl oben, wie unten, ein kleines Stück abgetrennt. Alle drei Bogenwindungspaare sind am
Scheitellappen nachweisbar; rechts läuft aber von der oberen mittleren Windung eine kleine oberflächliche Brückenwindung
zu der unteren mittleren Windung hinüber. Der Sulcus parietalis superior ist links rudimentär; rechts ist er ein Ast
des Sulcus interparietalis.
Beide Gehirne sind mittelst Formollösung gehärtet und direct nach Photographien in Lichtdruck wiedergegeben.
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