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Da ich neulich in einem anderen Werke, Crania suecica antiqua (Stockholm, schwed. Aufl. 1899,
deutsche Aufl. 1900), eine historische Uebersicht der Entwicklung der Anthropologie der europäischen Völker
gegeben habe, kann ich auf dieselbe verweisen, und brauche ich hier nur zu betonen, dass, wie schon Anders
Retzius nachgewiesen hatte, nicht nur die eigentlichen slavischen Länder (Russland etc.) von brachycephalen
Völkern bewohnt wrerden, sondern sich auch durch das mittlere und südliche Europa, und zwar durch Bayern,
Württemberg, Baden, die Schweiz, das nördliche Italien und Frankreich, sowie nach Osten hin, durch Tyrol,
Österreich und Griechenland, und nach Norden hin, durch Sachsen, eine breite Zone von Brachycephalen hinzieht.
In der späteren Hälfte des letzt verflossenen Jahrhunderts hat dann die Erforschung der anthropologischen
Charaktere der europäischen Völker einen grossen Aufschwung erfahren, zuerst durch die energische
und scharfsinnige Wirksamkeit deutscher und französischer Gelehrten; hier mögen in erster Linie die Namen
Hermann Welcker, Rudolf Virchow, Alexander Ecker, Julius Kollmann, Johannes Ranke, H. von Holder,
Otto Ammon in Deutschland und Paul Broca, Quatrepages und Hamy, R. Collignon, Hovelacque, Herve, La-
pouge, Deniker in Frankreich genannt werden. Aber auch in vielen anderen Ländern Europas haben für die
Eruirung der Rassencharaktere der europäischen Völker hervorragende Forscher gewirkt, so in Russland Carl
Ernst von Baer, An. Bogdanopf u. A., in Osterreich Zuckerkandl, Toldt, Holl, Tappeiner, in der Schweiz
His und Rütimejer, Kollmann, Eugene Pittard u. A., in Italien Niccolucci, Mantegazza, Calori, Sergi und
v. A. Rid. Livi, in Spanien Aranzadi und Olöriz, in Belgien Houze, in Grossbritannien Davis und Thurnam,
Beddoe, Haddon, in Norwegen Arbo, Gtuldberg, Barth und Larsen.
Das für diese anthropologische Forschung des letzten Halbsekels besonders Bezeichnende ist die
statistische Massenuntersuchung der einzelnen Völker, wrelche v. A. an den lebenden Individuen ausgeführt
worden ist; und diese Massenuntersuchung wurde nicht nur auf die Länge und Breite des Schädels beschränkt,
sondern hat in der Regel auch andere anthropologische Merkmale, die Grösse des Körpers in stehender und
sitzender Stellung, die Länge der Arme, die Form des Gesichtes, die Farbe der Augen, der Haare und der
Haut u. s. w\, umfasst.
Die in dieser Weise gewonnenen Ergebnisse sind von einigen Forschern, unter denen Beddoe, Kollmann
, Ripley und in der letzten Zeit v. A. Deniker zu nennen sind, in mehr oder weniger eingehender Weise
zusammengestellt worden. In dem einleitenden Abschnitt zu meinem oben genannten Werke (Crania suecica
antiqua) habe ich auch eine solche Uebersicht der erhaltenen Ergebnisse zu geben gesucht.
Auf der interessanten Karte, welche der mir erst später (durch die gütige Zusendung des Verfassers)
zu Händen gekommenen grösseren Arbeit Denikers*) beigefügt ist, hat man eine gute graphische Uebersicht
der bisherigen Kenntnisse hinsichtlich des Index cephalicus bei den europäischen Völkern erhalten; in dem
Texte sind die betreffenden Angaben zusammengestellt, und zwar nach den Untersuchungen sowohl an Schädeln
, wie an den Köpfen lebender Individuen.
Aus der Karte, wie aus dem Texte, tritt aber auch die bekannte Thatsache hervor, dass noch ganz
bedeutende Partien von Europa hinsichtlich des Index cephalicus nicht oder in sehr ungenauer Weise untersucht
sind. Vor Allem gilt dies von Russland und Norddeutschland.
Dagegen ist Deutschland in Betreff der Farbe der Augen, der Haare und der Haut durch die in den
Schulen ausgeführte Massenuntersuchung, deren Ergebnisse in R. Virchow's grossem Werke in Arch. f.
Anthrop. i. J. 1886 veröffentlicht wurden, in umfassendster Weise untersucht worden; es ist nur zu bedauern,
dass diese Massenuntersuchungen an Schulkindern, und nicht an erwachsenen Individuen ausgeführt wurden,
da in Folge der bei Kindern viel geringeren Entwicklung der Pigmentirung sich ein directer Vergleich mit
den in anderen Ländern bei älteren Individuen erhaltenen Resultaten nicht gut durchführen lässt.
Die Länder, welche im Ganzen am genauesten erforscht wurden, sind Frankreich, Italien, Spanien,
Bayern und Baden. Unter diesen leuchten Italien, durch die kolossalen Erhebungen Livi's, und Baden, durch
die umfassenden und eingehenden Untersuchungen Ammon's, ganz besonders hervor.
Aber auch unser Nachbarland Norwegen stellt durch die gewichtigen, schon seit einer Reihe von
Jahren ausgeführten Forschungen Arbo's unter den in diesen Hinsichten am besten bekannten Ländern.
*) J. Deniker, Les Races de l'Europe, I, Association francaise, Paris 1899.
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