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Vorwort
Die Darstellung des nackten menschlichen Körpers war von jeher die schönste und schwierigste
Aufgabe der bildenden Kunst. Für den denkenden Künstler liegt eine grosse Befriedigung in der
Erkenntniss dessen, was er vorher unbewusst nachzuahmen gezwungen war. Die Wissenschaft gibt
der Kunst die Mittel an die Hand, einen Blick in das innere Triebwerk dieser herrlichen Schöpfung zu
thun, um die äussere Erscheinungsform die Physiognomie des geistigen Innern richtig deuten
zu lernen.
Hauptsachlich durch die plastische Anatomie gewahren wir, wo der allwaltende Geist dieser
Schöpfung charakteristisch ausladet; durch sie sehen wir, wie die höchsten Vorbilder der Kunst,
namentlich der Plastik, aus der Natur übersetzt sind.
Es zeigt wenig Einsicht in die Triebfedern des menschlichen Organismus, wenn man glaubt,
durch mehrmaliges Nachschnitzen oder Kopiren anatomischer Statuen diesem Studium Genüge leisten
zu können. Instinktmässiges Nachahmen zieht die Kunst von ihrem Gipfel in den Staub herab.
Nicht den äusseren Menschen, sondern den inneren durch den äusseren in der Darstellung zu
veranschaulichen, ist die Aufgabe der Kunst. Hiezu reicht freilich das Kunsthandwerk allein nicht
aus; mit diesem schafft man höchstens ein hohlgegossenes Stück plastischer Virtuosität, dem es in der
Hegel ergeht wie den Marktschreiern, von denen man sich, wenn man sie gesehen und gehört, mit
Lächeln wieder abwendet.
Wold weiss ich, dass die plastische Anatomie, wie man sie gewöhnlich auffasst, dieser geistlosen
Virtuosität allein entgegenzustreben nicht im Stande ist, Jedoch im Vereine mit acht künstlerischer
genialer Thatkraft wird sie die Gesetze der Schönheit, die in der menschlichen Gestalt einzig und
allein ihre Basis haben, crschliesscn; die Vertheilung der Massen, die Flächen und Linien, der Generalbass
des Schönen, wird dem Künstler durch sie klar vor die Seele treten, und ist ihm die Quintessenz
dieser Studien ins Blut gedrungen und Geist geworden, so wird er nicht mehr machen _ sondern
schallen.
Die Erfahrung hat mir gezeigt, wie ungern Künstler aus Lehrbüchern und am Cadaver ihre
Studien machen: um dieses nicht mehr absolut nothwendig zu haben, habe ich es versucht, die
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