http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/roth1870/0010
Beobachtungen an der Leiche und dem Modelle im Vergleiche zur Antike so charakteristisch als
möglich in die plastische Form zu bringen und den Studirenden, neben den Vorlesungen an den
Kunstschulen und Akademien, zugleich ein richtiges Bild von der lebenden Form der betreffenden
Körpertheile zu geben.
In wie weit mir dieses gelungen, überlasse ich dem Künstler zur Beurtheilung; diesem glaubte
ich hiermit mehr zu bieten, als es eine breite Abhandlung über Formen je im Stande sein dürfte.
Das Zeichnen nach Abgüssen anatomischer Präparate, wobei man meistens in allzugrossem Eifer
die Formen sich einzupauken sucht, hat oft grössere Nachtheile als man glauben möchte. Es liegt
dies einerseits in den durch Krankheit abgezehrten Präparaten, welche man nicht selten gezwungen ist
zu derartigen Abgüssen zu verwenden, und anderseits in den so meist verschobenen Muskelgruppen
dieser Abgüsse, wodurch eine falsche Vorstellung der Formen, besonders der Gelenke, Rück entheile
und der Brust unausbleiblich ist. Es kann also hiebei nur Erspriessliches mit Rücksicht auf die Natur
erzielt werden, wesshalb es auch auf die Anschauung des Studirenden sehr befruchtend einwirken
würde, wenn man sowohl in den anatomischen Vorlesungen für Künstler mehr mit dem Stifte, als der
Pincette operiren, als auch bei den Aktstudien mehr nach dem Verständniss der Form als der
Wirkung trachten würde.
Von wesentlicher Bedeutung ist noch das Fett unter der Haut; je nach der Verschiedenheit
des Individuums, füllt es die Tiefen aus, verbindet die Massen und mildert die harten Uebergänge, so
dass die Linien und Formen weich und zart in einander überfliessen. Die darüber gespannte elastische
Haut fügt sich dem Ganzen genau an und so kommt mit der grössten Feinheit und Schönheit der
Begriff des Inwendigen zum Ausdruck.
Nur ein falsch geleiteter Eifer sucht auf Kosten der Totalität mit seinem Wissen zu kokettiren
und markirt Muskelformen, wo es die Gesetze des Organismus so wenig als die der Schönheit zulassen.
Gerade hierin ist die griechische Kunst besonders hoch zu achten, dass man in den feinsten Nüancirungen
das tiefste Verständniss der Körper gewahr werden kann, ohne dass sie dieses in prätentiöser Weise
zur Schau tragen.
lüliclieil, den 22. Juli 1869.
Chr. Roth,
frypsabgiisse des Athleten, sowie seines anatomischen Pendant, letzteres bemalt und tmbemalt (2/a der Lebensgrösse) sind bei dem
Künstler, Gabelsbergerstrasse Nr. 19a in München stets zu haben.
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