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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
108.1989
Seite: 237
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1989/0239
los verurteilte er jede Uberhebung theoretischer Fächer über die klinische Erfahrung,
und jeden Versuch, das selbständige Urteil der Kritik in therapeutischen Fragen anzutasten
. Ungemein bezeichnend in dieser Richtung ist eine lapidare Äußerung, zu der
er sich einmal vor versammelter Klinik hinreißen ließ; sie betraf die Wirkung des Rizinusöls
. Damals kannte man die Rizinolsäure noch nicht, und Schmiedeberg [Lehrer
der Arzneimittelkunde] hatte uns gelehrt, das Rizinusöl wirke abführend allein durch
seine Eigenschaft als glättendes Ol und sei ganz überflüssig, da Baumöl denselben
Dienst leiste. Nun hatte Kußmaul in der Klinik ein altes, abgemagertes Weib vorgestellt
, durch dessen dünne und welke Bauchdecken hindurch kindskopfgroße Kotballen
tastbar waren. Bei der Besprechung der Therapie empfahl der Praktikant alle
möglichen Abführmittel, nur nicht das Rizinusöl, und als ihn Kußmaul fragte, warum
er dieses treffliche Mittel nicht nenne, suchte er sich durch die Erwähnung der
Schmiedeberg'schen Ansicht zu verteidigen. Da schwoll die Zornesader auf Kuß-
mauls Stirn und er rief, indem er, wie bei jeder Erregung, in den Dialekt der badischen
Heimat verfiel: Was? Sch . . . dem sein' Frosch nit drauf? Mein' Kranke
sch . . . d'rauf, und solang se des könne, kriege se's!"

In der Medizinischen Klinik waren vier Assistenten, und auf jeden kamen im
Durchschnitt 30 Betten .. . Sommer und Winter mußten wir früh um sieben Uhr mit
der Vorvisite beginnen, pünktlich um 8 Uhr dem Chef über alle Vorkommnisse der
Nacht und über das Befinden jedes einzelnen Kranken, nach dem er fragte, berichten
können. 8 74 — 9 {li Uhr wurde die Klinik abgehalten. Daran schloß sich die Visite
mit dem Chef . . . Sie dauerte meist bis 11 Uhr. Die Zeit von 4 Uhr bis zum Abendessen
und oft auch noch nach diesem wurde zu den notwendigen Untersuchungen und
zur Anfertigung der Krankengeschichten verwendet. Kußmaul hielt streng drauf, daß
die Krankengeschichten am Krankenbette und nicht im Zimmer des Assistenten geschrieben
wurden . . . Nur einer von uns vieren wohnte im Spital und hatte dann den
Nachtdienst für die drei anderen mit zu versehen. Ein halbes Jahr lang war mir diese
ehrenvolle Last übertragen. Kußmaul war der Ansicht, daß der Magen der an Magenerweiterung
Leidenden, der sich von selbst niemals völlig entleert, wenigstens alle
24 Stunden einmal ganz leer gemacht werden müßte. Die beste Zeite hierzu schien
in der Mitte der Nacht zu liegen. Ich mußte deshalb allnächtlich um 2 Uhr aufstehen,
alle derartigen Kranken wecken und ihnen die Mägen leerpumpen. Da unser erster
Assistent, Arnold Cahn, zusammen mit dem Privatdozenten von Mehring damals
über die Magensäure arbeitete, mußte ich auch noch allen gewonnenen Mageninhalt
auf Filter stellen, damit die Untersuchung gleich am nächsten Morgen beginnen
konnte. Diese nächtliche Arbeit neben des Tages Arbeit, Last und Mühe wurde für
etwas Selbstverständliches gehalten und willig ertragen; ich wußte doch, daß der alte
Chef sich selber niemals schonte.

In der Behandlung der Kranken ließ uns Kußmaul völlige Freiheit, verlangte aber
eine gute Begründung für jedes außergewöhnliche therapeutische Tun oder Lassen.
Er betrachtete uns als die behandelnden Ärzte und sich als unseren Konsiliarius. Bei
den Visiten gab er uns viel von dem reichen Schatze seines Wissens und manche Anregung
zu wissenschaftlichen Arbeiten. Hierbei, wie auch bei den Dissertationen,
war er nicht mit einer einfachen Wiedergabe seiner Ansichten zufrieden, sondern
verlangte, daß wir durch eigene Arbeit tief in die zu behandelnde Frage eindrangen.

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