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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
108.1989
Seite: 276
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1989/0278
Unter dem Einfluß der ärztlichen Leiter der Kreispflegeanstalten setzte sich allmählich
ein Wandel des Armutsbegriffs durch. Franz Eschle, Direktor der Kreispflegeanstalt
Sinsheim, hielt auf der Jahrestagung 1903 des „Deutschen Vereins für Armenpflege
und Wohlthätigkeit" ein Grundsatzreferat, das der Gesinnung der
ärztlichen Kreispflegedirektoren Ausdruck gab, die Praxis der Kreisverwaltung aber
nicht mehr beeinflußte.106

Eschle schildert das Scheitern der offenen Armenfürsorge und aller Zwangsmaßnahmen
durch Arbeitshäuser wie auch das Versagen der Privatwohltätigkeit und anderer
Reformversuche. Armut ist für ihn eine Krankheit oder wie eine Krankheit zu
beurteilen. Sie muß durch den Arzt in den Kreispflegeanstalten, die den Charakter
moderner Krankenanstalten haben, therapiert werden. Das ist keine Strafe, sondern
eine bittere Arznei. Das Familienmodell Wiecherns wird ausdrücklich verworfen, die
strikte Geschlechtertrennung in den Anstalten entspricht der therapeutischen Wiederholung
der Kindheit. Die Arbeit soll sinnvoll sein und produktiv. Manchmal notwendige
Strafen dürfen nicht moralisch motiviert ein, sondern müssen vom Patienten als
notwendige Konsequenz eines falschen Handelns begriffen werden. Das Pflegepersonal
, vor allem das weibliche, soll sorgfaltig überwacht und erzogen werden, günstig
wäre, die Kinder würden den Beruf ihrer Eltern erlernen und zeitlebens in der Anstalt
bleiben: Die totale Institution gewinnt Gestalt.

Die Definition der Armut als Krankheit erlaubte es, bisherige theoretische Probleme
der Armut107 plausibel zu lösen. Als Krankheit war Armut ein individuelles
Problem, dennoch mußten bestimmte gesellschaftliche Ursachen der Armut nicht
einfach geleugnet werden. Armut gehörte prinzipiell zum Bereich der Natur, wurde
aber, wie andere Krankheiten auch, durch gesellschaftliche Umstände begünstigt
oder behindert. Der Krankheitsbegriff von Armut erlaubte ferner, die alte Unterscheidung
von selbstverschuldeter und unverschuldeter Armut aufrechtzuerhalten,
analog zu vernünftigen und unvernünftigen Patienten. Des Weiteren ermöglichte der
Krankheitsbegriff der Armut eine deutliche Abgrenzung von anderen sozialpolitischen
Maßnahmen des Staates: auf Armenunterstützung gab es kein Recht, wie etwa
auf Leistungen der Sozialversicherung. Dennoch gab es eine humanitäre Pflicht zur
Hilfe, wie sie der Tradition des Armenarztes entsprach. Armut als Krankheit erforderte
auch keine außergewöhnlichen Zwangsmaßnahmen, im Gegensatz zur Jugendfürsorge
, wo im Blick auf den Entwicklungsaspekt die Disziplinierung zur Arbeit und
Integration in die Arbeitsgesellschaft als Ziele der „Therapie" nicht aufgegeben werden
durften.108 Armut als Krankheit erlaubte ferner eine Rechtfertigung der Isolierung
in Anstalten fernab der Städte, gleichsam als Quarantäne wie für ansteckende,
unheilbare Krankheiten. Letztlich ermöglichte der Krankheitsbegriff der Armut
auch, die ärztliche Kompetenz für den Bereich der öffentlichen Armenpflege zu beanspruchen
.

Durch die Tätigkeit als Kassenarzt in der Sozialversicherung hatte sich die Arztrolle
zu ändern begonnen. Statt ihrer alten Existenz als privater Beistand bei Privatleuten
wurden die Ärzte zu öffentlich-rechtlich bestellten Verwaltern eines Teils der
gesellschaftlichen Arbeitsfähigkeit.109

Die Frage, ob die Entscheidung über Arbeitsfähigkeit und Nicht-Arbeitsfähigkeit
in die ausschließliche Kompetenz der Ärzte überging, war um 1900 noch nicht ent-

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