Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 465,da
Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
122.2003
Seite: 93
(PDF, 58 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2003/0093
Der Kehr. Mobilität der Unterschichten im 19. Jahrhundert

Von
Rüdiger Hitz

Das 19. Jahrhundert ist, vor allem in seiner ersten Hälfte, durch ein starkes Anwachsen der
Unterschichten, der abhängig Beschäftigten und der Armut gekennzeichnet. Armut wurde ab
etwa 1830 ein Massenphänomen. Das Überhandnehmen der Armen bezeichneten die Zeitgenossen
als Pauperismus. Ursache war die Bevölkerungsvermehrung bei stagnierender Wirtschaft
und einem ebenfalls stagnierendem Arbeitskräftebedarf. In den 1840er Jahren war die
Not dort am größten, wo die Industrie fehlte. Das Ende des Pauperismus in den 1850er Jahren
ist auf die Industrialisierung und die von ihr geschaffenen neuen Arbeitsplätze zurückzuführen.
Die Mehrheit der Unterschichten laborierte am Rande eines niedrig angesetzten Existenzminimums
aufgrund unsteter BeschäftigungsVerhältnisse und chronischer Unterbeschäftigung.
Unterschichten stellten keine Einheit dar. So gab es Unterschiede zwischen Leuten aus der
Stadt und vom Land, zwischen Gesellen, Taglöhnern und Dienstmägden.1 Welche Auswirkungen
diese Lage konkret auf einzelne Menschen, einzelne Familien hatte und welche Rolle
die Mobilität dabei spielte, soll im Folgenden näher untersucht werden.

Es gab vielfältige Formen von Mobilität bei den unteren Schichten. Auf einige Formen der
Mobilität soll hier näher eingegangen werden, insbesondere auf den sogenannten Kehr. Der
Kehr, in den Quellen manchmal auch als Umgang bezeichnet, war eine erzwungene Art von
Mobilität für Ortsarme innerhalb einer Landgemeinde. In den Kehr kamen Ortsarme, die kein
Haus besaßen, sich keine Wohnung leisten konnten und oftmals auch keine Mittel hatten, sich
selbst zu ernähren. Sie mussten reihum von Haus zu Haus in der Gemeinde ziehen und bei den
Haus- und Hofbesitzern in der Gemeinde „einkehren", damit jeder einmal mit ihrer Beherbergung
belastet wurde. Anhand der Gemeinde Steig im Schwarzwald soll aufgezeigt werden,
welche Handlungsspielräume eine Gemeinde bei der Unterstützung verarmter Gemeindeangehöriger
hatte, wer von den Ortsarmen in den Kehr geschickt wurde und wie die Betroffenen
auf diese erzwungene Mobilität reagierten.2

Für die Armenpflege war nicht der Staat zuständig, sondern die Kommune. Verarmte Personen
mussten von der Gemeinde versorgt werden, in der sie beheimatet waren bzw. in der sie
das Ortsbürgerrecht besaßen.3 In der badischen Landgemeinde Steig konnte nicht einfach der
Bürgermeister mit seinen Gemeinderäten die Leute in den Kehr schicken. Wenn es um Aus-

1 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 51991, S. 220-221
und 226-227.

2 Quellengrundlage sind Archivalien des Gemeindearchivs Breitnau (GAB). Die Akten der Gemeinde Steig sind
im Bestand der Gemeinde Breitnau, da Steig und Breitnau sich 1935 zu einer einzigen Gemeinde zusammenschlössen
. Die Geburts-, Heirats- und Sterbedaten der meisten namentlich aufgeführten Personen aus Steig sowie
deren Berufs- und Familienverhältnisse stammen aus zwei unveröffentlichten Datensammlungen: 1) Rüdiger
Hitz/Hillard von Thiessen: Auszüge aus der Familiendatenbank. Hinterzarten 2001. (Archiviert im Ortschronikarchiv
der Gemeinde Hinterzarten). Es sind neben den Hinterzartener Familien auch die Familien des
südlichen Teils der alten Gemeinde Steig erfasst. 2) Helmut Heitzmann teilte mir dankenswerterweise die Daten
für die Personen aus Steig mit, die er u.a. in den Breitnauer Kirchen- und Standesbüchern gefunden hat. Seine
gesammelten Familiendaten sollen demnächst in der „Höfechronik Breitnau" veröffentlicht werden.

3 Christoph Sachsse/Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter
bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 251.

93


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2003/0093