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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
124.2005
Seite: 68
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fangenen Liechtenfels gegenüber behauptete der Rat jedoch, dass die Schwester gestanden
habe, um sie dadurch zu einer Aussage zu veranlassen. Halfen weder Drohung noch Täuschung
, blieb dem Rat noch die Folter, um von Gefangenen zu erfahren, was er erfahren wollte.

Auf dieses Vorverfahren in den Türmen - der eigentliche Prozess folgte erst nach dem Geständnis
- konnten die Verdächtigten unterschiedlich reagieren. Sie konnten weiterhin ihre Unschuld
beteuern. Dann mussten allerdings alle, die sich nicht im Sinne der Obrigkeit zu einer
Tat bekennen wollten, die Folter erdulden und bei ihrer Version bleiben. Gelang es den Delinquenten
die Verhörenden zu überzeugen, endete das Vorverfahren mit der Freilassung des Verdächtigen
nach Ableistung einer Urfehde.

Schaffte es der Delinquent nicht, die Tat völlig abzustreiten, konnte er versuchen nur bereits
Nachgewiesenes einzugestehen. Martin Gerhart verwendete eine weitere Verhandlungsstrategie
. Er versuchte, die Obrigkeit über seinen Geisteszustand im Unklaren zu lassen. Gerhart
hatte Erfolg und wurde auf Grund seines Verhaltens milder bestraft.146 Die Wahrheit erscheint
als eine Art Verhandlungsgegenstand.147

Bei der Interpretation von Vergichten und den auf den Vergichten fußenden Urteilen sollte
nicht vergessen werden, dass die Obrigkeit, wie dargestellt, mit allen Mitteln versuchte ein Geständnis
zu erlangen. Der städtische Rat beanspruchte, wo er konnte, die Definitionsmacht
über „die Wahrheit" und stellte schon in diesem Vorverfahren die Tat, den Hergang, den Täter
und somit „die Wahrheit" fest. Falls der Freiburger Rat ein dringendes Interesse daran hatte,
konnte er die Straftäter mit allen Mitteln dazu bringen zu gestehen, was er wollte.148 Delinquenz
war demnach auch das. was der Freiburger Rat darunter verstand oder verstehen wollte.
So oszillierte die Lage der Delinquenten einerseits zwischen der Chance, die eigene Situation
durch das Gestehen glaubwürdiger Geschichten positiv zu beeinflussen, und dem Ausgeliefertsein
gegenüber der Obrigkeit.

Es ist anzunehmen, dass die Stadtobrigkeit, je nach der Situation, in der sie sich gerade befand
, das, was sie unter abweichendem Verhalten verstand, enger oder weiter definierte.149 Dies
könnte eine Erklärung dafür abgeben, weshalb Personen ins Urfehdbuch aufgenommen wurden
, deren Taten zum Zeitpunkt der Anlage des Eintrags schon Jahre zurücklagen. Sie waren
dem Rat schon einmal unangenehm aufgefallen.

Die Anlegung des Urfehdbuchs und anderer „Verwaltungs"-Bücher, wie das Geschieht- oder
Untreubuch, erscheint mir daher im Kontext der Verunsicherung des Freiburger Rates nicht erstaunlich
. Die verstärkte Verwaltungstätigkeit der Obrigkeit war eine der Reaktionsweisen auf
delinquentes Verhalten.150 Die Untersuchung des Vergichtteils weist darauf hin, dass die vor
den Prozessen stattfindenden Vorverhandlungen, Verhöre, Untersuchungen und Befragungen,
vor allem bei Hochgerichtsbarkeitsprozessen, für die Straftäter weitaus wichtiger waren als die
Prozesse selbst. Denn in den Prozessen wurde nicht mehr über die Frage der Schuld oder Unschuld
der Delinquenten verhandelt, sondern nur noch über die Höhe der Strafe. Die Schuldfrage
wurde zuvor im Martins-, spätestens im Diebsturm geklärt.

Bei der Bestrafung der Rechtsbrecher ging die Obrigkeit sehr unterschiedlich vor, je nach
Ansehen der Person. So hatten die materiellen Verhältnisse Einfluss auf die Verurteilung und
Höhe der Strafe, ebenso wie die Fragen, ob die zu Verurteilenden Fremde oder Einheimische,

146 StadtAF, AI Xle 1499 Mai 13.-17.

147 Vgl. zu Verhandlungsstrategien von Delinquenten im 18. Jahrhundert die mikrohistorische Studie von Andrea
Griesebner: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert
(Frühneuzeit-Studien, NF 3). Wien/Köln/Weimar 2000, S. 144f.

148 Vgl. dazu etwa Poinsignon, Christophsthurm (wie Anm. 3), S. 10-12.

149 Vgl. dazu die Studie von Alfred Soman: Deviance and criminal justice in Western Europe (1300-1800). An
essay in strueture. In: Criminal justice history 1, 1980, S. 3-28. Solman zeigt am Delikt der Zauberei und Hexerei
die Zyklen gesellschaftlicher Sensibilisierung und Desensibilisierung.

150 Die vermehrte Verwaltungstätigkeit lediglich als Reaktion auf Krisen zu begreifen, wäre unzulässig. Es gibt
viele weitere Ursachen dafür, diese liegen jedoch nicht im Fokus dieser Arbeit.

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