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Friedrich Riedrers rhetorisches Programm
Am Mittwoch vor sant Luden tag [=11. Dezember 1493], veröffentlichte Friedrich Riedrer
den Spiegel der waren Rhetoric /Uß m Tullio C und anderen getütscht: mit im glidern clüger
reden /Sandbriefen und formen menicher con/tract/ seltzam Reguliertes Tütschs und /nutzbar
exempliert/mit fügen uff/göttlich und keiserlich schrift und rech/te gegrundt: nuwlich und vor-
maln in gemein nye gesehen yetzt loblich uß/gangen. Rhetorischer Spiegel und lüchtender
SternJwolerwegens Redens und schribens zu Friburg in Brisgaw uß hilff des /der alle gutheit
würscht/ und vor aller creatur ze loben ist. Durch Fridrichen Riedrer versamelt/gedruckt/ und
volendet.
Ein Spiegel, wie ihn Riedrer auch in der Illustration seiner Schrift verwendete, in seiner lateinischen
Bezeichnung Speculum, ist eine Summa, also eine Zusammenfassung eines Sachgebietes
, hier der Rhetorik, die an der Universität unter den Artes liberales, den sieben freien
Künsten gelehrt wurde.68 Die Rhetorik als Kunst der Rede bedeutet hier mehr als eine Hilfe für
den Redner: Sie enthält die Regeln der menschlichen Kommunikation mit Hilfe der Sprache in
Wort und Schrift.
Riedrer bietet in seinem Spiegel der Rhetorik eine umfassende Theorie der Redekunst, der
Ars Rhetorica. Dahinter steckt die Darstellung der Rhetorik der Antike, vor allem der Rhetorik
an Herennius (ca. 86-82 v.Chr.) und von Ciceros „De inventione" (55 v.Chr.), die Riedrer
aus einer Sammlung antiker Rhetoriktexte „Oratoriae artis epitoma" des Jacobus Publicius Flo-
rentinus (1482) übernahm. Von diesem „Wanderhumanisten" stammt auch die Konzeption seiner
Gesamtrhetorik, in der die theoretischen Überlegungen mit Beispielen der Praxis verknüpft
werden, wie er sie in der Kanzlei seines Herrn, in den Vorlesungen der Universität, beim
Gerichtsschreiber Johann Vogler, beim Untergerichtsschreiber Sünlin und bei der Kanzelverkündigung
gehört, gelesen, erkannt und abgeschrieben hatte.
Riedrer ging bei seinen Überlegungen von den sechs klassischen Ratschlägen des Alberta-
nus Brixensis aus: „Wer? Was? Wem? Warum? Wie? Wann?" mit dem Merkvers Wer bist, gedenk
du redner. Was redst, das nit schaden geben Welichem sagt, merck dabei. Warum sprichst,
dir kund sye. Wie gnäm (redst), wenig oder trag, wenn din Red hab zyt und steg.
Im ersten theoretischen Teil, einer „Ars Rhetorica", beschrieb er die fünf klassischen Produktionsstadien
der Rhetorik: 1. Die Vindung, die Gedankenfindung: Inventio. 2. Der Anschick
, die Anordnung der Gedanken: Dispositio. 3. Das Gespräch: Pronuntiatio. 4. Die Zierliche
red, die Beredsamkeit: Elucutio. Hier findet sich ein ausführliches Regelwerk für eine
Stillehre in der deutschen Sprache. 5.Gedächtnis: Memoria. Mnemotechniken als Stützen für
die Gestaltung einer Rede.
Der zweite Teil, eine „Ars Dictandi", ist ein Handbuch für die „schreiberliche Praxis". Er
enthält: 1. Eine Schreiberlehre: (Berufs-)Schreiber, Schreiberlehrlinge und Absender. 2. Ein Titelbuch
mit Titulaturen und Anredeformen. 3. Eine Briefgattungslehre mit zahlreichen Beispielen
von Privatbriefen, Todesanzeigen, Scherzbriefen u.a. 4. Eine „Ars Notariae" mit Musterverträgen
und Formularen nach Vorlagen der Freiburger Gerichts, mit Eheverträgen, Testamenten
u.a. Die Schrift ist also ein umfassendes Handbuch der Rhetorik in deutscher Sprache,
das die antike Theorie mit praktischen Beispielen für den Alltag verbindet.
Riedrer stattete sein Werk mit mehreren Holzschnitten aus: Das Titelblatt zeigt zwei Engel
mit Schild, mit dem Wappen der Herren von Friedingen, einen rechtsgewendeten, schreitenden
Löwen, und dem Wappen der Herrn von Steckborn, einen senkrecht geteilten Schild in Me-
68 Vgl. Kleinschmidt (wie Anm. 53); Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart 2000. S. 207-235.
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