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kurzer Augenscheinnahme durchgeführten Selektionen ausgesondert und zur Ermordung in
den Gaskammern bestimmt, die er als Lagerarzt aus sicherer Distanz zu beaufsichtigen hatte
. In seiner Funktion als Lagerarzt führte Mengele außerdem Krankenblock-Selektionen im
„Zigeunerlager" B He (1943/44) und im Häftlingskrankenbaulager (HKB) B Ilf durch, bei
denen er ebenfalls viele Tausende kranke Frauen und Männer ohne Behandlung ließ und in
den Tod schickte. Mengele war ferner bei der Auflösung beziehungsweise „Lagerselektion"
des „Zigeunerlagers" B He und des damaligen „Theresienstädter Familienlagers" B IIb im Juli
und August 1944 maßgeblich beteiligt. Er selektierte dabei persönlich sämtliche zu diesem
Zeitpunkt im Lagerabschnitt B IIb befindlichen jüdischen Häftlinge, von denen er lediglich
3.000 als „arbeitsfähig" einstufte, und aus dem „Zigeunerlager" 1.400 Sinti und Roma zur
Verlegung nach Buchenwald und in andere Konzentrationslager. Die übrigen 4.000 Juden des
„Familienlagers" und 3.000 Sinti und Roma wurden in Folge von Mengeies Selektionen in den
Gastod geschickt.73

Neben seiner Tätigkeit als Lagerarzt, dessen offizielle Aufgaben die „Organisation und
Überwachung des Gesundheitswesens" in den ihm unterstellten Lagerbereichen von Auschwitz-
Birkenau waren, zeigte Mengele mindestens ebenso großen Ehrgeiz bei seinen „anthropologischen
Forschungen" - schwerste medizinische Verbrechen - im Auftrag und mit Zuarbeit für
Verschuers KWI in Berlin: Menschenversuche zur Augenheterochromie und Farbveränderung
der Iris durch Injektion chemischer Substanzen, Blutreihenuntersuchungen zur Reaktion und
Vererbung spezifischer Eiweißkörper bei Typhusinfektionen, willkürlich vorgenommene Tuberkulose
- und Flecktyphus-Infektionen von „Zigeuner"-Zwillingen, dilettantische chirurgische
Eingriffe, Vivisektionen, Autopsien und Blutaustauschexperimente bei Zwillingskindern,
die oft tödlich endeten oder tödlich enden sollten. Mengele schickte Organe, Gewebeproben,
Körperteile und Skelette der von ihm getöteten „Probanden" nach Berlin und legte in seinem
im Gebäude von Krematorium II eingerichteten „Labor" riesige Material- und Datensammlungen
zu seinen „Forschungsgebieten" an: u.a. zur Zwillingsforschung, Vererbung unterschiedlichster
Krankheiten, Entstehung und Behandlung der Mangelkrankheit Noma, Ursachen des
Zwerg- und Riesenwuchses und Verkrüppelung.74

Unter Berücksichtigung der umfassenden Aussagen überlebender Auschwitzhäftlinge, denen
Mengele an der Rampe oder im Häftlingslager begegnete, ergibt sich ein komplexes, mitunter
widersprüchliches Täterbild:75 Mengele, der vom Ehrgeiz getriebene „Wissenschaftler"
und „intellektuelle" Gesinnungstäter, der aus Einsicht in die „Notwendigkeit der Endlösung",
in ideologischer Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm
gegen die Juden handelte, der „Mörder mit den weißen Handschuhen", der persönlich Distanz
zu seinen Opfern hielt und nichts an sich heranließ, immer gepflegt, Opernmelodien pfeifend,
seinen „Dienst" an der Rampe und im HKB verrichtete oder verrichten ließ und dabei - im
Wortsinn der Posener Rede seines obersten Dienstherren, Reichsführer SS Heinrich Himmler
vom 4. Oktober 1943 - „anständig geblieben" ist.76 Mengeies extreme Grausamkeit zeigte sich
dabei weniger in einer ausgeprägt sadistischen Lust am Töten und Quälen - auch wenn es Zeugen
gab, die genau diese bestätigten - als in seiner völligen Empathielosigkeit gegenüber Menschen
, die er als seine „Probanden" und bloßes Versuchs-„Material" bedenkenlos dem Kalkül

Zum Gesamtkomplex der Rampen-, Lager- und HKB-Selektionen Mengeies vgl. Zofka (wie Anm. 67), S.
255f. und Völklein (wie Anm. 10), S. 126-143.

Zu den medizinischen Verbrechen Mengeies im Besonderen vgl. Kubica (wie Anm. 33), S. 369-455.
Vgl. Völklein (wie Anm. 10), das Einleitungskapitel „Der Todesarzt", S. 9-32.

Heinrich Himmler. Geheimreden 1933-1945, hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt
a.M. 1974. Vgl. Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a.M. 2010.

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