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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2015/0102
Die Angst vor der sittlichen Verrohung:
Kriegsmentalitäten und gesellschaftliche Einstellungen des späten Kaiserreichs

Der Status Freiburgs als Lazarettstadt war neben der Nähe zur Front, der massiven Präsenz von
regulären deutschen Truppen in der Stadt und der Betroffenheit durch die Fliegerangriffe der
Alliierten einer der Gründe, warum sich die Freiburger „Heimatfront" intensiver mit den Folgen
des Ersten Weltkrieges konfrontiert sah als andere deutsche Städte, zugleich aber auch stärker
als andere Zivilbevölkerungen für den Krieg - in diesem Fall auf dem Gebiet des Kriegslazarettwesens
- mobilisiert wurde.74 Am Beispiel des Freiburger Kriegslazarettwesens lassen sich
deshalb kollektive Kriegsmentalitäten und gesellschaftliche Einstellungen des späten Kaiserreichs
gleichermaßen gut veranschaulichen. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Bereich der Verwundetenversorgung
. Dort führte die massive Anwesenheit von Lazaretten in Freiburg einerseits
dazu, dass den Stadtbewohnern die kriegsbedingten Verwundungen und Leiden präsenter
waren als den Deutschen im Inneren des Reiches.75 Andererseits bot sich gerade den Frauen über
die Tätigkeit in den Lazaretten ein vielfältiges Feld patriotischer Profilierung. Stellvertretend
für andere Frauen steht hier die Verlegergattin Charlotte Herder, die ihre Erlebnisse und Gefühle
als Vorständin des gleichnamigen Lazaretts in ihrem Kriegstagebuch festhielt. Aus ihrem
Tagebuch wird geradezu paradigmatisch sichtbar, wie sich bei ihr die Angst vor den Folgen
eines - keineswegs bejubelten - Krieges mit einem trotzigen Bekenntnis zum Vaterland sowie
der Entschlossenheit vermengte, durch aktive Mitarbeit an der Verwundetenversorgung ihren
Teil zum Dienst am Vaterland beizutragen. Obwohl von ständigen Ängsten über den Ausgang
des Krieges und das Schicksal ihres zum Heer eingezogenen Gatten geplagt, wird sie von dem
Gefühl gepeinigt, im Gegensatz zu den anderen Damen aus ihrer Umgebung noch ohne größere
„patriotische" Aufgabe geblieben und deshalb „minderwertig" zu sein. Entsprechend groß ist
ihre Erleichterung, als ein Teil des Firmengebäudes auf Betreiben ihres Gatten zum Lazarett
umfunktioniert und dieses kurz darauf sogar in den Rang eines eigenständigen Reservelazaretts
erhoben wird: Im Anfang des Krieges war die ganze Frauenwelt Freiburgs in fieberhaftester
Tätigkeit begriffen - nur ich nicht. Ich stand abseits. Alle Damen, die ich kannte oder nicht
kannte, hatten ihr Pöstlein, machten sich nützlich, leisteten etwas - nur ich nicht. Durch dieses
Tal der Demütigung musste ich täglich gehen, täglich, denn auf die Frage: „ Was tun Sie, Frau
Herder?" musste ich ja antworten: „Ich tue nichts!" [...] Und heute? Heute bin ich nicht nur
als Krankenpflegerin am Werk, sondern ich fungiere auf den Listen als „ Vorsteherin des Lazaretts
Herder" und habe selber Posten zu vergeben und nicht zu vergeben. So geht es in der Welt
[...].76 (Abb. 6)

Eine ähnlich ambivalente Stimmungslage lässt sich bei der Ankunft der ersten Verwundeten
im Lazarett beobachten. Der Schock über die Schwere der Verwundungen paart sich bei
Charlotte Herder mit dem Stolz, sich den Herausforderungen des Lazarettdienstes gewachsen
zu zeigen: Ich schwamm in einem Meer von Glückseligkeit, berichtet sie, als sie zusammen mit
einem Apotheker die stark eitrige, übel riechende Fußverletzung eines Landwehrmannes behandelt
und dabei standhaft bleibt. Entsetzen über die Grausamkeit des Krieges und gestiegenes
Selbstwertgefühl infolge der „patriotischen" Partizipation am Kriegsdienst in der „Heimatfront"

Vgl. Jörn Leonhard/Kurt Hochstuhl/Christof Strauss: Einleitung: Der Erste Weltkrieg zwischen globaler
Imagination, regionaler Erfahrung und lokaler Erinnerung, in: Menschen im Krieg 1914-1918 am
Oberrhein. Vivre en temps de guerre des deux cötes du Rhin 1914-1918. Kolloquium zur gleichnamigen
Ausstellung, hg. von Dies., Stuttgart 2014, S. 7-18, hier S. 11-13.
Vgl. Geinitz (wie Anm. 8), S. 285-291.
Herder (wie Anm. 30), S. 21 (Eintrag vom 30.8.1914).

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