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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2015/0203
Dirk Schindelbeck: „Das wirst du nicht los, das verfolgt dich ein Leben lang!" Die Geschichte des Waisenhauses
in Freiburg-Günterstal, hg. von der Waisenhausstiftung Freiburg, Stiftungsverwaltung Freiburg
, Freiburg 2013, 175 S., zahlr. Färb- und S/W-Abb.

Heimerziehung - ein Wort, das heute einen schlechten Klang hat. Das war keineswegs immer so, vieles
wurde von der Gesellschaft nicht wahrgenommen oder wollte sie nicht wahrnehmen. Sie musste aufgerüttelt
und gezwungen werden, soziale Missstände zu erkennen, sie anzuprangern und abzuschaffen.
Auslösendes Moment war der 2002 erschienene Film „The Magdalene Sisters", ein Jahr später der Spiegel
-Artikel „Die Unbarmherzigen Schwestern". Jetzt äußerten sich auch ehemalige Zöglinge, viele brachen
ihr Schweigen, überw anden ihre Scham, sprachen über ihre traumatischen Erlebnisse. Eine Law ine
kam ins Rollen, vor allem nachdem auch sexueller Missbrauch in kirchlichen Bildungseinrichtungen
aufgedeckt wurde. Die Medien beschleunigten den Prozess, sodass sich die Kirche zur Aufarbeitung
der damaligen Zustände in Erziehungsanstalten gezwungen sah. Frühe Hinweise in den 1960er- und
1970er-Jahren waren damals noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen.

Dirk Schindelbeck arbeitete im Auftrag der Stiftungsverwaltung vor allem die Jahre nach dem Zweiten
Weltkrieg auf. In einem kurzen Abriss schildert er zunächst die Entstehung des Findelhauses für uneheliche
Kinder und des Waisenhauses für ehelich geborene Kinder in Freiburg, in der Zeit von 1378 bis
1894. In eben diesem Jahr wurde das unter Joseph II. aufgelöste Zisterzienserinnen-Kloster in Günterstal
als städtisches Waisenhaus in Betrieb genommen. Geführt wurde es von den Vinzentinerinnen, die 1846
von Straßburg nach Freiburg gezogen waren. Sie prägten die Heimerziehung bis ins Jahr 1975. Durch
die Kriegssituation lebten 1917 101 Kinder in den inzwischen zwei Abteilungen, einem Waisenhaus und
einem Kinderheim. Bereits in den 1920er-Jahren leistete man bei der Beurteilung der Kinder mit der
Klassifizierung „minderwertig" den rassenpolitischen Zielen Hitlers Vorschub. Zwangssterilisation, medizinische
Experimente und Euthanasie trafen nun auch die Zöglinge im Waisenhaus. Wie so häufig,
fehlen hierzu die Akten oder sind noch nicht freigegeben. Nach dem Bombenangriff im November 1944,
der auch das Haus in Günterstal beschädigte, musste das Waisenhaus noch Klinikabteilungen aufnehmen
, darunter die Kinderklinik. Man kann sich die Platznot und auch die Ansteckungsgefahr vorstellen.

Den weitaus größten Teil seiner Abhandlung, 80 Seiten, widmet der Autor den 30 Jahren von 1945
bis 1975. Schindelbeck weist auf den Wandel innerhalb der Gesellschaft hin, auf die Auswirkungen des
Grundgesetzes, die Demokratisierung und später die 68er-Revolution, in deren Gefolge die antiautoritäre
Erziehung um sich griff. Das bisher von den Nonnen gelebte „statische System" in der Heimerziehung,
Disziplin, Ordnung und dazu die „verheerenden Erziehungsmethoden" der Vinzentinerinnen, kollidierte
mit den neuen Tendenzen zur freiheitlichen und selbstbestimmten Entwicklung von Kinder und Jugendlichen
. Das in vielen Beispielen geschilderte „Fehlverhalten" der Kinder wie Essens- und Arbeitsverweigerung
, Bettnässen und anderes mehr führten zu drakonischen Strafen, zu Gewalt und Demütigung
gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern. 90 Zeitzeugen wurden befragt, die überwiegend von solchen
traumatischen Erlebnissen erzählten; selten dachten einstige Zöglinge auch mit Dankbarkeit an ihren
Aufenthalt im Waisenhaus. Die im Buch nur auszugsweise wiedergegebenen Interviews will Schindelbeck
in einem zweiten Band veröffentlichen. Zweifellos waren die Nonnen durch die ihnen selbst auferlegte
Verhaltensweise - Disziplin und Gehorsam - geprägt, ohne Frage waren sie mit der Betreuung der
vielen Kinder und deren Problemen überfordert. Dies zeigte sich, als nach dem Weggang der Nonnen im
Jahr 1975 das Personal verdreifacht werden musste. Die erste Klage gegen eine gewalttätige Schwester
hatte damals zum Eklat und zur Rückkehr der Vinzentinerinnen in ihren Orden geführt.

Im Lauf der nächsten zehn Jahre erfolgte der Umbau zu unabhängigen offenen Wohngruppen mit
Erziehern, die nun pädagogisch und psychologisch geschult wurden. Sie hatten sich mit neuen Problemen
abzugeben, mit Drogenabhängigkeit und Kleinkriminalität, aber auch mit internen Machtkämpfen
innerhalb des Kollegiums. Immer mehr Kinder wurden in Außenwohngruppen untergebracht, denn das
Gebäude sollte anderweitig genutzt werden. 1985, nach 91 Jahren, wurde das Waisenhaus in Günterstal
aufgelöst. Darin fand nun das Internat des Deutsch-Französischen Gymnasiums seinen Platz. In der Erinnerung
der einstigen Heimkinder lebt es aber noch fort, oft in Albträumen. Ursula Huggle

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