Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 465,da
Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
135.2016
Seite: 78
(PDF, 38 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2016/0078
Die ethisch-pädagogische und kirchlich-pastorale Zielrichtung beider Sprüche liegt auf der
Hand, sie ist uns Heutigen insbesondere noch mit dem biblischen Sprichwort vom „Splitter im
Auge des Anderen" geläufig:91 Ihre zeitgenössische Bedeutung wird jedoch erst recht sichtbar,
wenn in Rechnung gestellt wird, welch hoher Aussage- und Erkenntnis wert dem Sprichwort
„als Ausdruck uralter Lebensweisheit" seit Erasmus beigemessen worden ist. In den Sprichwörtern
sieht dieser die gesamte ,Philosophie4 und Weisheit der Antike in Abbreviatur enthalten.92
Ebenso hebt Heinrich Bebel auf das hohe Alter der deutschen Sprichwörter ab, die er als tradierte
Zeugnisse germanischer Kultur und Sitte und einer „Moralphilosophie der praktischen
Lebensführung" versteht.93 Agricola und Franck, die Sammler der Reformationszeit, erhöhen
dann noch einmal das Wesen und die Essenz des Sprichworts als Ausfluss göttlicher Weisheit;
„letzterer rückt die Sprichwörter immer wieder in unmittelbare Nähe der Evangelien".94 Dem
Leser will Franck, wie er im Vorwort zu seiner Publikation ausführt, zeigen, was weißheyt,
kunst, verstand, religion vnd verborgner gheym in der alten Teutschen, Latiner, Griechen vnnd
Hebreer Sprichwortern steckt, und ihn ermuntern, dass er ein lust vnd lieb dar zu gewünn, denen
[Sprichwortern] [...] selbs im Herrn nachzudencken, als einem festen wort Gots, das Got
in aller menschen hertz vnnd mund geschriben vnnd gelegt hat, wie in der außlegung ettlicher
Sprichworter ersehen würt.95

In diesen Kontext sind also auch die zwei hier in Rede stehenden, inhaltlich identischen
Sinnsprüche der Dürckenheimer-Arbeit zu stellen, bei denen es sich um die breitere Ausformung
eines ursprünglich knapp gefassten Diktums handelt, auf das sie letztendlich zurückzuführen
sind - die Sprichwortsammler Petri96 und Gruterus97 kennen und zitieren es ebenfalls: SIHE
DICH SELBST AN, lautet bündig die Kurzversion, die ihrerseits auf die Adagia des Erasmus
und sein eingehend kommentiertes Sprichwort Nr. 595 - NOSCE TEIPSUM (ERKENNE DICH
SELBST)98 - zurückverweist. Erasmus benennt im Kommentar die Schwere der gleichwohl
unabdingbaren Verpflichtung zur Selbsterkenntnis mit einem Zitat: Thaies autem rogatus, [...]
Quid est difficile? respondit: seipsum nosse. Quidfacile? Alterum admonere. (Thaies erwiderte
auf die Frage: Was ist schwierig? 'Sich selbst erkennen. Und was ist leicht? ,Die anderen tadeln
). Überheblichkeit also, die sich aus fehlender Selbsterkenntnis speist: diese Thematik wird
von Erasmus auch in jenem, wohl nicht zufällig dem NOSCE TEIPSUM vorausgeschickten
Sprichwort Nr. 594 angesprochen, das, wie Erasmus sagt, derzeit in vielen Regionen zur Kenn-

91

92
93

94

95

96

97

98

WER DEN SPLITTER RICHTEN WILL IN EINES ANDERN AUG / DER SEHE ZUVOR AUFF DEN
BALCKEN IN SEINEM EIGEN AUG, heißt es bei Petri (wie Anm. 67), S. [842]. Siehe dazu ausführlich
Carl Schulze: Die biblischen Sprichwörter der deutschen Sprache. Nachdruck der Ausgabe 1860, hg. und
eingeleitet von Wolfgang Mieder (Sprichwörterforschung 8), Bern u.a. 1987, S. 137f., Nr. 193.

Payr (wie Anm. 71), S. XIV und XXIX; Bässler (wie Anm. 67), S. 40.

„Bebel will die Ethik der alten Deutschen, die das Äquivalent der antiken Philosophie und [...] Gesetzgebung
sei, in den Sprichwörtern aufweisen." Mertens (wie Anm. 76), Sp. 159 f.; Graf (wie Anm. 76), S.
291f.; Bässler (wie Anm. 67), S. 41.

„Welch hohen Stellenwert [...] das Sprichwort um 1500 genießt, kann man letztlich daran erkennen, dass
es sich als ehrwürdige Form der Weisheitsrede dem ersten [...] Quell aller Weisheit zugeschrieben sieht:
[...] weil nämlich ,Alle weysheit alleyn von Gott gegeben wirf (Agricola)." Bässler (wie Anm. 67), S.
50f.

Franck (wie Anm. 82), S. 7. Ausführlich dazu Meisser (wie Anm. 71), S. 389ff.; Barbara Bauer: Die
Philosophie des Sprichworts bei Sebastian Franck, in: Sebastian Franck (1499-1542), hg. von Jan-Dirk
Müller (Wolfenbüttler Forschungen 56), Wiesbaden 1993, S. 181-221.

Petri (wie Anm.67), S. [673].

Gruterus (wie Anm. 85), S. 65 (dort auch: SICH SELBS KENNEN DIE GRÖST KUNST).
Text und Ubersetzung nach der Ausgabe .letzter Hand' von 1536: Payr (wie Anm. 71), S. 416-421.

78


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2016/0078