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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
135.2016
Seite: 153
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Als Erforscher der deutschen Nationalstaatsidee hatte Meinecke nicht weit zurückliegende
Probleme abgehandelt, sondern Zeitgeschichtsschreibung verfasst. Die Gegenwart über ihre historischen
Grundlagen aufzuklären, dies stellte die leitende Absicht des Buches dar. Der große
Publikumserfolg war aber nur zum Teil mit der Aktualität des Themas zu begründen. Denn an
realgeschichtlichen Deutungen der Zeitgeschichte bestand nach Sybel und Treitschke eigentlich
kein Mangel. Entscheidend war die ungewöhnliche Herangehensweise, die Meinecke gewählt
hatte. Geschichte - das waren im Kaiserreich nach vorherrschender Meinung vor allem
glänzende Schlachten und in Wehr schimmernde Feldherrn und Reichs deputationsaus Schüsse
und große Konzile und Kongresse.24 Meinecke interessierte dies jedoch nur am Rande, denn er
versuchte Geschichte als einen von Ideen angetriebenen Entwicklungsprozess zu verstehen. Er
blieb daher nicht an dem wilden Durcheinander politischer und militärischer Initiativen haften
und ignorierte auch die uferlose Vielzahl der mit der deutschen Einigung befassten Projekte
und Programme. Meinecke konzentrierte sich stattdessen auf das in seinen Augen eigentlich
Wichtige, das Hochpolitische: die langsame Ausbildung einer Nationalstaatsvorstellung. Deren
komplizierte Entstehung verfolgte er anhand der Schriften vornehmlich romantisch-konservativer
Philosophen und Politiker von Wilhelm von Humboldt über Friedrich Wilhelm IV. bis zu
Ranke und Bismarck. Die gewöhnlich allein dem politischen Genie Bismarcks zugeschriebene
Reichsgründung wurde so auf eine überraschende Weise mit der kulturellen Blüte um 1800
in Beziehung gesetzt. Meinecke zeigte auf, wie sich die universalen Menschheitsideen des 18.
Jahrhunderts in den letzten hundert Jahren immer weiter nationalisiert hatten und schließlich
das Nationale universal geworden war. Die Reichsgründung erschien in dieser Perspektive aus
einer gewaltigen, ganz Europa erfassenden Revolution des Geistes hervorgegangen zu sein.

Da Meinecke die Reflexionen der von ihm untersuchten Persönlichkeiten mit großer stilistischer
Eleganz und Klarheit zur Anschauung brachte, vermochte seine Darstellung auch ästhetische
Bedürfnisse zu befriedigen. Es begegnet selten, so bemerkte der ab 1907 in Heidelberg
lehrende Hermann Oncken, selbst ein ausgezeichneter Kenner des 19. Jahrhunderts, dass die
Feinheit der Gedankenverflechtung und die abgewogene Reife des Urteils einen völlig adäquaten
Ausdruck in der Feinheit und Reife der Darstellungsmittel finden [...].25 In einer Zeit, in
der viele Gebildete vom rasanten sozialen Wandel verunsichert eine tiefgreifende Kulturkrise
wahrnahmen26, wurde Meineckes geistig sublimierte, weite Horizonte aufzeigende Geschichtsbetrachtung
dankbar, ja geradezu begeistert angenommen. Kein anderes zeitgenössisches Buch,
so urteilte rückblickend ein damaliger Nachwuchshistoriker, hat die aufwachsende Generation
tiefer berührt als diese zarte, wie mit feinsten Messern operierende Gedankenanatomie [...].27

Die überwältigende Zustimmung, die Meinecke mit seiner neuen Sicht des 19. Jahrhunderts
bei den Zeitgenossen fand, hat mitunter vergessen lassen, dass er mit seiner Darstellung das
Erreichte keineswegs einfach nur feiern wollte. Schon in seiner Einleitung28 hatte Meinecke
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er die aus einer Staatsbildung von oben hervorgegan-

So jedenfalls die Erfahrung von Kurt Tucholsky: Klio mit dem Griffel, in: Gesammelte Werke in zehn
Bänden, Bd. 2: 1919-1920, hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek 1975, S. 383.

Rezension von Hermann Oncken: Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, in: Forschungen
zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 22 (1909), S. 307.

Vgl. Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter
des Imperialismus, Göttingen 1969. Auch Meinecke gehörte dem 1912 gewählten Gesamt vor stand
des Dürerbundes, der ca. 200 Persönlichkeiten vornehmlich aus Kultur und Wissenschaft umfasste, an.

So Müller (wie Anm. 22), S. 449.

Ausgezeichnet zu ihr Meike Steiger: Schöpferische Restauration. Zur politischen Romantik-Rezeption,
in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 2003, S. 147-162, zu Meinecke bes. S. 150-153.

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