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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2019/0161
schlechte Lebensprognose stellen. Seine ungünstige Charakterveranlagung und seine moralische
Minderwertigkeit sind ihm angeboren, lassen sich nicht beeinflussen und lassen sich nicht
ändern. Sein bisheriges Verhalten beweist dieses in jeder Hinsicht, es beweist, dass er unfähig
ist[9] ein brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein.

Aufgrund dieser Beurteilung schloss Dr. Ehrismann eine Besserung durch eine Anstaltsbehandlung
aus und folgerte: Friedrich Spindler muss seiner Persönlichkeit nach als ein Schwerverbrecher
angesehen werden, der nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung einer über
18 Jahre alten Person gleichzusetzen ist.44

Das Gutachten lässt im zweiten Teil jegliche Professionalität und Wissenschaftlichkeit vermissen
.45 Weite Teile der Beurteilung werden nicht konkret durch Untersuchungsergebnisse
belegt. Stattdessen werden Eigenschaften in Spindlers Charakter hineingedeutet, die auf Vorannahmen
und Voreingenommenheit beruhen. Sie entsprechen den rassistischen Klischees, wie
sie sich gegenüber „Zigeunern" in einer jahrhundertelangen Tradition herausgebildet hatten
und durch die „Rassenhygieniker" und die „Rassenhygienische Forschungsstelle" schein-wis-
senschaftlich bestätigt worden waren. Genealogien, ein Zigeunersippenarchiv und andere kriminologische
Zusammenstellungen sollten die Behauptungen belegen. Zigeunern und nach
Zigeunerart herumziehenden Personen sei der Wandertrieb angeboren, Vagabundentum und
Landstreicherei gehörten zu ihrem Wesen. Diese Heimatlosigkeit sei mit Elend, Primitivität und
Kriminalität verbunden. Vor allem Diebstahl sei an der Tagesordnung. Zigeuner seien geborene
Kriminelle, die mit der ganzen Strenge des Gesetzes bekämpft und möglichst ausgemerzt werden
müssten. Das sei auch deshalb erforderlich, weil die Zigeuner moralisch haltlos, asozial und
gemeinschaftsschädlich seien. Ihre schlechten Eigenschaften, ihre rassische Minderwertigkeit
und ihr artfremdes Blut könnten nicht durch geeignete Maßnahmen verändert werden und dürften
sich nicht vermehren.46

Wie erklärt es sich, dass ein Psychiater, der mit hoher Wahrscheinlichkeit Mitgefühl mit
seinen Patienten empfand und sich für sie gegen die nationalsozialistische Politik einsetzte,
in diesem Fall die Annahmen der „Rassenhygiene" ohne Einschränkungen übernahm und ein
Gutachten erstellte, das der damaligen „Zigeunerpolitik" entgegenkam?

Nun war Friedrich Spindler nicht der einzige Fall, bei dem es Gustav Ehrismann mit einem
„Fahrenden" zu tun hatte. Bekannt geworden ist die Geschichte des Halbzigeuners Albert
Scheffel, eines 1906 geborenen Jenischen.47 Er lebte seit 1930 in der Heil- und Pflegeanstalt

GLA, 507 Nr. 4720, Bl. 47-53, Gutachten Dr. Ehrismann, 10.04.1943; ebenso in Nr. 4721.

Frank Janzowski findet, dass diese gutachterlichen Feststellungen Ehrismanns „sehr befremdlich" seien

und nicht seinem „normalen Stil" entsprächen. Er hat zahlreiche Wieslocher Krankenakten aus dieser
Zeit durchgesehen, die von Ehrismann geführt wurden (E-Mail vom 14.06.2019). Allerdings unterscheiden
sich Krankenakten in einer Anstalt von Gutachten für ein Gericht, in denen es um die Bewertung des
Angeklagten geht.

Vgl. nur Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und

Verachtung, Berlin 2011; Frank Reuter: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des
„Zigeuners", Göttingen 2014; Haumann, Akte (wie Anm. 2), S. 20-37 und 61-84. Dieses „Zigeunerbild"
blieb im Übrigen nach 1945 wirksam, siehe ebd., S. 195-251. Nur erwähnt sei, dass es auch in anderen
Ländern Geltung hatte und entsprechende Folgen nach sich zog.

Jenische haben möglicherweise einen gemeinsamen Ursprung mit den Sinti und Roma. Offenbar haben

sich dieser Gruppe immer wieder Angehörige der eingesessenen Bevölkerung angeschlossen. Sie waren
und sind häufig Fahrende und betätigen sich als Schausteller, Wanderhändler, Korbflechter oder Besenbinder
. Den Behörden galten sie als fahrendes Volk und als nach Zigeunerart Herumziehende. Während
der nationalsozialistischen Herrschaft wurden sie als Asoziale, Gemeinschaftsfremde, Gemeinschaftsun-

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