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an seine frühere Existenz, was sich durch ein Examen beweist. Bisweilen
sagen sie ihre Todesstunde voraus und bezeichnen auch genau
die Zeit ihrer Wiedergeburt. Diese Dalai-Lamas werden für die
Inkarnationen Buddhas angesehen und sind somit Götter.
Wenn ein Groß-Lama fortgegangen ist, d. h. wenn er gestorben
ist, so wird dadurch die Lama-Priesterschaft keineswegs in Trauer
versetzt, da man genau weiß, daß der Dalai wiederkommen wird. Das
Leben ist nur ein Ring einer in die Unendlichkeit aufsteigenden
Spirale, Während der Heilige sich nun in chrysalidem Zustande
befindet, sind seine Schüler ängstlich besorgt, da es sich darum
handelt, herauszufinden, wo ihr Meister aufs neue ins Leben tritt.
Sie werfen sich alle mit besonderem Eifer aufs Gebet und verdoppeln
ihre Fasten und religiösen Übungen. Eine auserwäblte Schar
begibt sich zum Tschurtschun, dem Orakel, das Kenntnis von den
Dingen besitzt, die den gewöhnlichen Sterblichen verborgen sind.
Bald verkündet das Orakel alsdann, wo und in welcher Familie der
Groß-Lama wieder zum Leben gekommen ist, und erfreut kehren die
Gesandten mit der frohen Botschaft zurück.
Nicht selten trifft es zu, daß die Jünger des Verstorbenen keine
Mühe aufzuwenden brauchen, um die Wiege des Oberpriesters zu
entdecken. Kaum ist seine Verwandlung vor sich gegangen, so offenbart
er sich bei der Geburt oder in einem Alter, da andere Kinder
nicht artikuliert zu sprechen imstande sind. „Ich bin", spricht er
dann mit Würde, „der Großlama des Tempels so und so, man führe
mich zu meiner alten Priesterschaft zurück!"
Gewöhnlich ist dieses Kind dann schon im Alter von 5—6 Jahren
so reif die Prüfungen zu bestehen, nach denen er dann in sein Amt
wieder eingesetzt Mird.
Von dem deutschen Forscher Heinrich Hensoldt haben wir aus
dem Jahre 1894 einen Bericht, der seinerzeit seinen Weg durch die
gesamte Kulturwelt nahm. Unser Gewährsmann erzählt:
Als ich mich im Norden Indiens aufhielt, hörte ich oft die
Behauptung, daß der Dalai eine Puppe in der Hand einer Rotte von
Intriganten sei, und beschloß einen Großlama aufzusuchen. Daher
erwartete ich, einem dummen Geschöpf gegenübergestellt zu werden,
mit dem sich keine vernünftige Unterhaltung werde führen lassen.
Er war in der Tat noch ein Knabe von kaum acht Jahren, doch
bot er, anstatt einer törichten und teilnahmslosen Physiognomie, wie
ich ihn mir vorgestellt hatte, ein Aussehen, das mich mit dem größten
Erstaunen und Bestürzung erfüllte. Sein Gesicht war von größter
Begelmäßigkeit und Schönheit, unvergeßlich in Bezug jenes Ausdrucks
von Melancholie, der so seltsam mit seinen sonst kindlichen Zügen in
Kontrast stand.
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