http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/sphinx_zo_dog/0208
Erwägungen angestellt über Leben und Sterben. „Sehen Sie, lieber Freund", hatte
er gesagt, „wir sind zwei alte Knaben, die ihre Siebenzig auf dem Buckel haben,
davon wohl sechs Jahrzehnte lang die Augen immer hübsch offen hielten, beide auch
viel gereist sind und verschiedene Länder gesehen, verglichen und die Menschen
darinnen aufmerksam betrachtet haben. Wenn Sie alle diese Menschen zusammenrechnen
, alle die verschiedenen Lebensalter in den sechs Jahrzehnten und in all*
den Ländern, da kommen eine solche erkleckliche Anzahl von Millionen heraus, daß
der einzelne Mensch, wir miteingeschlossen, in all' seiner eingebildeten Größe und
Wichtigkeit darin für nichts, aber auch für gar nichts gilt! Und dieses Nichts soll
eine Ewigkeit haben? Es soll weniger sterblich sein, als das Blatt, das vom Baume
fällt, als die Ameise, die einer achtlos auf dem Fußwege zertritt? Ferner: Wir mit
unseren Siebzig sind immer einsamer geworden; Einer und Eine nach dem Anderen
sind um uns herum weggestorben. Daß die Welt deswegen ihren Gang ruhig
weitergeht, als wäre geschehen, was geschehen ist, nämlich nichts, — das finden wir
ja selbstverständlich. Aber ist es Ihnen nicht auch schon, und das wiederholt,
geschehen, daß Sie da und dort, bei uns, in dieser oder jener Stadt, in diesem oder
jenem Lande, Leute getroffen haben, sprunglebendig und wichtig, wie wir alle, von
denen Sie sich sagten: Eidiedonner, — das Aussehen, die Sprache, die Stimme, das
Gehaben und Wesen, ei, das ist ja ganz der und der, das ist ja die und die —, die
schon lange tot sind! Womit ich meine, daß diese immer wieder vorkommenden
Doppelgänger und Doppelgängerinnen beweisen, es sei ganz gleichgültig, ob x oder y
gestorben sind; es leben ja trotzdem und immer wieder so viele ihresgleichen!
Warum soll also dieses Nichts von x oder y, von Neumann; Maier, Fügenhauer,
Schulze, Mockentin oder Schmidt ewig leben und unsterblich sein? Sehen Sie, auch
deshalb bin ich üherzeugt, mit unserem Tode ist alles zu Ende, für uns natürlich
nur. Das Leben geht weiter, immer weiter, weiter!"
Der Geheimrat schüttelte lächelnd den Kopf: „Das klänge nicht übel, wenn es
nicht so falsch wäre! Ich kann Ihnen unmöglich wiederholen, was alles unsere
größten Geister, unsere Denker und Dichter, unsere Philosophen so siegreich gegen
Ihie Scheingründe geltend gemacht haben; Sie kennen das schließlich ebenso gut wie
ich. Aber sehen Sie, kann sich der Engerling, wenn er im Erdboden Würzelchen
kaut, vorstellen, daß er selbst als Maikäfer einst in frischer, freier Luft munter umher
schwirren wirfl? Kann der Fisch eine Vorstellung davon haben, daß es Wesen gibt
außer ihm, welche zu leben vermögen, ohne beständig Wasser durch Kiemen zu
pumpen, zu leben in einem weniger dicken und schweren, freieren Element, sich
anders zu bewegen, als mit Flossenbiegungen und Schwanzschlägen? Ahnt wohl die
unter dem Kohlblatt sitzende, nur ihren langen Bauch pflegende Eaupe, daß sie einst
als froher Schmetterling farbenprächtig im Sonnenschein hingaukeln soll? Und dies
alles sind doch nur einzelne Lebenszaubereien dieses kleinen irdischen Planeten;
müssen wir nicht erschauern beim Überdenken der Unendlichkeit, der Millionen von
Möglichkeiten, die uns der unauszudenkende Sternenhimmel zu ahnen zwingt?"
„Oha, lieber Freund und Logikfechter, habe ich Dich?" drohte Herr Fügenhauer
dem Freunde mit warnendem Zeigefinger. „Sie sprechen von Scheingründen?
Nun, was ist denn mit dem Engerlingmaikäfer, wenn er all' in seiner Munterkeit
ausgeschwirrt hat? Was ist denn mit dem Kaupenschmetterling, wenn es aus ist
mit dem farbenprächtigen Gaukeln? _Und auf die letzte aller Fragen schweigt mir
Anmerkung des Verfassers: Dogmatische Gesichtspunkte liegen dieser kurzen
Erzählung natürlich fern; wenn die Leser nur nachdenken wollen, so sind die
höchsten Ansprüche jener erfüllt.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/sphinx_zo_dog/0208