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Ziel verhelfen sollen — darin liegt auch das kräftigste Mittel, der mächtigste Hebel
zu unserer Selbstvervollkommnung: darin liegt der ganze Sinn der großen sittlichen
Lehre, welche Christus, der göttliche Lehrmeister, in die Welt gebracht hat, indem
er uns als das größte Gebot, als die höchste der Tugenden die Liebe hinstellte.
Die Liebe ist frei von Selbstsucht, sie erweckt in uns das lebendige Mitgefühl für
unsere Mitmenschen und für alle Geschöpfe Gottes, sie erzeugt die Hingebung für
sie bis zum Selbstvergessen; sie ist in der Tat das edelste der Gefühle.
Justinus Kerner sagt in seinem Buche „Seherin von Prevorst" (Verlag Reklam-
Leipzig): „Die Eigenschaft des reinen Geistes ist das Schauen und nicht das Wissen."
Und die wahre Sympathie, welche begründet ist auf der Ähnlichkeit und
Gleichartigkeit der edleren Gefühle und Neigung der Geister, ist die geistige Anziehungskraft
, welche die verwandten Seelen im Weltall verbindet, gleichwie das
Gesetz der Schwerkraft die physische Weltordnung zusammenhält.
Was bedeutet nun die Dauer einer Menschenexistenz, das Leben einer
Generation? Nach Verlauf einer winzig kleinen Zeit ist sie hin und vergangen, wie
alle früher dagewesenen Geschlechter; ein neues Geschlecht tritt immer wieder an
die Stelle des vorhergehenden, um eben bald einem folgenden den Platz zu überlassen
. Aber die kommenden Generationen werden besser und glücklicher sein als
wir, ihre Vorfahren, die ihnen den jetzt noch dornigen Weg ebnen. Nach dem für
uns Menschen so langen und doch so nichtigen Zeitraum von hundert «Jahren ist das
Dasein ganzer Generationen, in dem ewigen Wechsel der Naturentwicklung, von der
Erde verweht. Und wir kurzsichtigen Menschen legen soviel Wert auf Interessen
als ob sie immer dauerten; rechnen soviel auf dasjenige, was im Unvergänglichen
gar keinen Wert hat! Wir schaffen uns künstliche, unnatürliche Interessen, während
wir unsere wirklichen, wahren nicht erkennen und vernachlässigen. Daher haschen
wir dann auch nach vergänglichen Schatten und suchen in ihnen vergeblich ein
bleibendes Glück, welches doch nur allein in den unvergänglichen Gütern des Geistes
liegt. — Wer-dieses eingesehen hat und sich danach richtet, der hat den Kern der
Weisheit erkannt, der hat diejenige Höhe der Entwicklung erreicht, wo der Geistesfortschritt
in stets beschleunigterem Laufe seiner hohen Bestimmung — der Vollendung
— zueilt; der hat das Zeitliche überwunden, der lebt im Ewigen.
Die Zeiten verrauschen, Jahrhundertc um Jahrhunderte werden verrinnen und
Jahrtausende um Jahrtausende; die Ströme der Ewigkeiten werden unaufhaltsam
dahinfließen und auch unsere jetzige vergängliche Weltordnung wird in ihren Fluten
zerrinnen; die Weltgesetze werden unwandelbar fortfahren, sich zu erfüllen; die
Welten, auf denen wir jetzt verkörpert unsere Pilgerfahrten vollbringen, auf denen
sich das Leben abgesponnen und deren Zweck sich erfüllt haben wird, werden vergangen
sein, gleich den unzähligen Welten, die aus dem Schöße der Unendlichkeit
hervorgegangen, vor uns dagewesen und dahingegangen sind. An ihrer Stelle
werden neue Weltengebilde mit derselben,Entwicklung des Lebens entstanden sein —
unser unsterblicher Geist aber wird dann den Strahlenglanz göttlicher Vollendung
errungen haben.
Schau nicht so düster hier hinab,
Hinauf, hinauf in lichte Ferne,
Zu höheren Welten, schön'ren Sternen
Erhebe dich dein trauernd Herz!
Nur Staub zu Staub gesellt das Grab :
Die Seele lebt in Regionen,
Wo du mit ihr auch bald wirst wohnen,
Darum trocknet Tränen,
Schweig o Schmerz.
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