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„Man hätte sich ja schließlich an dies alles gewöhnen können", ergriff nun
Lilly das Wort, indem sie mit dem Weinen kämpfte, „aber meine arme Mama leidet
am meisten unter den Nachtwachen, denn zu schlafen wagen wir nur bei Tage. Dem
Gustl geht es, seit er hier ist, nicht besser als uns. Musizieren Fremde hier bei
uns, so rührt sich nichts, aber wir werden, wenn Gesellschaft da ist, doch immer
aufgefordert mitzutun, und besonders ich soll immer singen, aber das geht dann ja
garnicht, denn sobald ich den Mund öffne und den Ton ansetzen will, singe nicht
ich, sondern mein verstorbener Onkel. .Wir laden nun niemanden mehr ein. mein
Bräutigam ist wohl musikalisch, trägt unserer „Nervosität", wie er sagt, Rechnung
und so ist unsere liebe Musik nur auf die nächtlichen Spukübungen beschränkt.
Unsere alte Köchin, die Kathi, die Sie auch noch von früher her kennen, weiß
davon, hört es aber nicht, weil sie da oben auf dem kleinen Hügel im Dienstbotenhause
schläft, und die zwei anderen Dienstboten sind nur untertags da und wissen
nichts von unserem Unglück. Ab und zu ist aber doch etwas durchgesickert; Wir
sind von Neugierigen belästigt worden und sind als Narren oder doch als merkwürdige
Menschen verschrieen. Ich habe Papa schon gebeten, das Landhaus samt
dem ererbten Vermögen den Armen zu geben: wir Kinder wollen uns schon durchbringen
, aber er will nicht."
Herr V. ergänzte noch, daß der verstorbene Kammersänger den Passus im
Testament festlegte, daß Haus und Einrichtung nie von der Familie veräußert
werden dürfen. * „Wir gingen dann auch wieder des Vermögens verfustig, und das
kann und will ich nicht."
Unter dem Erzählen war es Abend gewoiden. das Gong rief zum Abendbrote,
und ich hatte, aufgeregt im Innersten über das Gehörte, noch kein Wort der Entgegnung
gefunden. Erst nach-langerer Zeit begann in mir ein großer Zorn über den
verstorbenen Kammersänger, über die zweifelsohne übersinnliche und nicht eingebildete
Quäle/ei aufzusteigen. Mein Temperament ging mit mir durch, und ich
schimpfte, ohne zu bedenken, daß ich als Gast in diesem Hause, das ich Spuknest,
Höllenspelunke usw. nannte.
Die V.'sche Familie kannte mich und meine kräftigen Ausdrücke zur Genüge,
schimpfte wacker mit und hielt schon meinen ungeschminkten Gefühlsausbruch für
eine Erleichterung ihrer Lage. Ich sagte, daß ich zwar nicht viel über Spiritismus
und Einschlägiges gelesen hätte, auch eigentlich sehr skeptisch sei, jedoch ich wollte
alles probieren, was mir in dieser Sache möglich sei.
An demselben Abend sehrieb ich noch an einen Freund meines seligen Vaters,
den Historiker D a s i o , teilte ihm, nachdem ich von der Familie V. die Erlaubnis
hierzu erhalten hatte, den außerordentlichen Fall mit und bat ihn um seinen schriftlichen
oder persönlichen Beistand. Er war überzeugter Geheimwissenschaftler, und
ihm verdanke ich viel Anregung und Aufklärung in der Metaphysik und auch das
Urteil, daß ich große mediale Eigenschaften besäße.
Schon als Kind beschäftigte ich mich gerne mit der Natur \md allem, was in
und außer ihr zu finden war,' und insofern hatte die Familie V. schon ganz recht,
sich mir anzuvertrauen; denn wenn ich auch nicht alles bedingungslos als wahr und
bestehend hinnahm, so hatte ich Verständnis dafür und den unbeugsamen Willen,
Licht in die unheimliche Sache zu bringen.
In dieser Nacht schlief ich fest und ruhig, während Frau V. wieder ihre
musikalische Nachtarbeit verrichten mußte. Die zweite Nacht aber war ich gar nicht
zu Bette gegangen; diesmal traf es die arme Lilly. Und als ich die ersten Töne im
Gartenzimmer vernahm, rannte ich die Treppe hinunter und trat an den Flügel, an
dem Lilly gerade das Lied „Ode an die Freude" zu einer von fernher klingenden,
geradezu überirdisch" schönen Männerstimme begleitete. Die Tränen liefen dem
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