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Ich konnte mich eines leisen Lächelns nicht erwehren, als ich —
es is£ schon ziemlich lange her -r, von einem übrigens durchaus
tüchtigen und anerkannten Pädagogen* der sicherlich ernst zu nehmen
war, die Mitteilung zu hören bekam: bei einer Reifeprüfung hätte ein
Kandidat nicht gewußt, wo Buenos Aires liege, er hätte es nach
Uruguay verlegt, statt nach Argentinien.
Ich weiß nicht genau, ob ich die Sache des Kandidaten besser
gemacht haben würde; ich glaube kaum. Heute wejß ich, wo Buenos
Aires liegt; heute weiß ich aber auch, daß Hein argentinischer
Lehrer — und diese sind seit Jähren nach deutschem Muster ausgebildet
— in sonderliche Verwunderung geraten würde, wenn —
sagen wir einmal — ein reifer Criollo „nicht wüßte, wo das Schöne
Dresden läge!"
Kein französischer oder englischer Lehrer würde über eine solche
Wissenslücke seines Zöglings in Entsetzen geraten, wohl aber
würden sie über Mängel an Freimut und Offenheit
in dem Charakter ihrer Eleven, über Denunziantentum
und perjsönlicheFeigheit, überMißachtungdes
Ehrenkodex seitens der heranwachsenden Jugend,
über den Mangel echterVaterlandsliebe und ritterlicher
Delikatesse in hohemMaße aufgebrachtsein!
Möge doch auch unsere Schule nicht bloß die Eindrillung bis ins
Minutiöseste gespaltener Detailkenntuisse als ihre Hauptaufgabe ansehen
, sondern die vorbildliche Erziehung und die durch Belehrung
bewirkte Reinigung und Festigung des Willens und die Verfeinerung
des Gemütslabens, die vor allem durch die umfassendste, verständig
geleitete Lektüre deutscher und fremder Meisterwerke der Literatur
gefördert wird.
Man wende nicht ein, daß eine solche ästhetisch-moralische Erziehung
bei der Verschiedenheit der natürlichen und ererbten Anlagen
fder zu bildenden Zöglinge- fast undurchführbar sei, Die Ansicht
Herbarts, daß die Seele des Menschen ein weißes Blatt ist, auf die der
Erzieher alles zu schreiben vermag, ist allerdings längst als unrichtig
erkannt worden, und ^pusseaus Theorie, der Mensch sei gut, sobald
dis Natur ihn aus ihren Händen entlassen, er liverde verderbt durch
die Zivilisation, ist eine liebenswürdige Schwärmerei. Man kennt den
Zusammenhang oder richtiger die Einheit der tierischen und geistigen
Natur des Menschen gegenwärtig viel besser, und man weiß, daß die
Erziehung nicht alles zu leisten vermag. Wir kennen die Machtgrenzen
der Erziehung. Aber, wenn sie auch nicht alles leisten kann,
so vermag sie doch — normale Verhältnisse vorausgesetzt — deirt
Willen Richtung zu geben, und sie vermag durch Gewöhnung an
v Zucht und durch die vorbildliche Kraft, die im Schönen und Tüchtigen
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