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Es sei uns als Insassen eines geradlinig-gleichförmig fahrenden
Eisenbahnzuges aufgegeben, die Geschwindigkeit des Zuges
festzustellen, wobei die äußere Umgebung unseren Blicken entzogen
sein soll. Wir versuchen mit den verschiedensten mechanischen Experimenten
unsere Aufgabe zu lösen; aber bald werden wir uns von
der Erfolglosigkeit unserer Bemühungen überzeugen und so zur Einsicht
in das sog. klassische Relativitäts-Prinzip gelangen. Dies sagt
aus, daß auf allen zueinander in geradlinig-gleichförmiger Bewegung
befindlichen Systemen (Inertialsystemen) mechanische Vorgänge in
derselben Weise verlaufen, so daß es also unmöglich ist, mit Hilfe
mechanischer Experimente die Geschwindigkeit eines solchen
Systems festzustellen.
Dies Relativitäts-Prinzip ist eigentlich nur eine unmittelbare
Schlußfolgerung aus dem Trägheitsprinzip. Wenn Körper ihre geradlinig
-gleichförmige Bewegung so lange beibehalten, als keine Kräfte
auf sie einwirken, so muß z. B. auch eine aus einer Röhre vom
Zuge aus senkrecht in die Höhe geworfene Kugel während ihres
Steigens und Fallens die horizontale Bewegung des Zuges, die sie
ja teilte, beibehalten und wieder in die Röhre zurückfallen. Bringen
wir die Röhre jetzt in die horizontale Richtung und lassen mittelst
einer Feder die Kugel in der Fahrtrichtung des Zuges hinausgeschleudert
werden, so folgt ebenfalls aus dem Trägheitsprinzip, daß
die Kugel sich relativ zur Röhre ebenso schnell fortbewegt wie
eine aus einer auf dem Erdboden befindlichen Röhre ausgeschleuderte
Kugel relativ zu dieser. Die von dem Zuge aus abgeschleuderte
Kugel fliegt also relativ zur Erde mit der Zuggeschwindigkeit
zuzüglich der durch die Federkraft erteilten Geschwindigkeit
vorwärts. Beide Geschwindigkeiten addieren sich.
Dieser Satz, der sich aus dem Trägheitsprinzip ableiten läßt,
ist also auf Erfahrung gegründet, und somit wären Zweifel an seiner
Richtigkeit nichts, was der Logik widerspräche, gibt es doch Fälle
genug, wo eine bisher als sicher angenommene empirische Erkenntnis
sich als trügerisch erweist.
Von dem soeben geschilderten Beispiele sind jedoch die Fälle
zu unterscheiden, wo es sich um die Beziehung von Geschwindigkeiten
zweier von einander ganz unabhängiger Körper
bzw. Vorgänge handelt. Es werde z. B. unser mit einer Geschwindigkeit
von 5 m/sek. fahrender Güterzug von einem Schnellzug
überholt. Wir stellen fest, daß der Schnellzug sich relativ zu
unserem Zug mit einer Geschwindigkeit von 10 m/sek. vorwärts
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