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Einer Legitimierung nämlich für diejenigen Individuen, deren psychische
Intensität einer Steigerung über die normale Ebene fähig ist.
Mit diesem Kennzeichen, das den Priester der alten Völker zum Arzt und
Regenten machte, ist nämlich jenes soziologisch unerläßliche Kriterium eines
objektiven Ranges der Menschen gegeben, an dessen Mangel alle Gemeinschaft
scheitert. Denn alle Chaotik staatlichen und gemeinschaftlichen Daseins,
alle sinn- und regellosen und verzweifelten Organisierungsversuche, alles Durch-
und Gegeneinander der Einzelnen springt aus der völligen Dunkelheit, die über
jedem Anhalt, jedem Anzeichen ruht, die Menschen naturhaft, d. i. mit allgemeingültiger
Exaktheit und widerstandausschließender sinnenhafter Evidenz, zu
gruppieren.
Ein objektives Kriterium menschlicher Rangordnung kann nicht intern und
innerlich sein und wenn tausendmal der psychische Wert der entscheidende
ist — — es muß die Physis ergreifen.
In der primitivsten Ordnung menschlicher Gemeinschaft war das Prinzip
der Stufenfolge soziologischen Organisiertseins nur physisch oder vornehmlich
physisch: der Stärkste seines Stammes der Mächtigste. Das war objektiv und
sinnenfällig.
Der nur-psychische Maßstab, nur-geistige Wertunterschied bedeutet aber
das Fehlen jeden soziologischen Klassifizierungs-Prinzips, weil er,
wenn auch zweifellos existent, so doch intern ist.
Darum kommt der platonischen Staats-Konception und allen den anderen
ihr folgenden, die, einer nicht abzuweisenden Empfindung Genüge leistend, den
psychischen Wert als Maßstab anthropologischer Ordnungen ansetzen, bei formaler
Gültigkeit eine restlose Unwirklichkeit zu.
Einen anderen Ausweg (auf den jene tieferen Geister nicht verfielen) aus dem
hoffnungslosen Dilemma: einerseits eine Wertdifferenz unter Menschen anerkennen
zu müssen, andererseits diese Differenz unmöglich allgemeingültig formulieren zu
können, bildet der gewaltsame Entschluß: die unleugbare Wertdifferenz aus dem
Staatsleben dennoch einfach zu streichen und die Menschen gleich zu setzen, weil
man sie nicht klassifizieren kann. Daß aber, wenn Ungleichheit Realität ist, Gleichheit
Chaos bedeutet, daß damit der Staat zur Anarchie oder zum Zuchthaus
wurde, sah man nicht oder wollte es nicht sehen.
Außer dem physischen und außer dem unrealisierbar-psychischen Kennzeichen
, d. i. der totalen Abwesenheit eines solchen, aber gibt es das auf dem
Wege über die Psyche wieder physisch sichtbar werdende Kriterium, und
dieses ist das einzige, keinem logischen Einwand unterworfene, mit der ganzen
Evidenz der Sinne auftretende, d. i. mit der Unwiderstehbarkeit physischer Gewißheit
wirksame Organisierungsprinzip menschlicher Gesamtheiten.
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