http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/villon1931/0049
so fest im Handgelenk, daß sie gar nicht mehr anders konnten,
als jegliches Erlebnis in den Eisentopf der traditionellen Form zu
pressen und so lange unter Druck zu halten, bis es sich umstülpen
ließ als gangbares Gebild für den Konsum.
Für den Meister Villon hat nie eine, von professoralen Doktrinen
geaichte Maßform existiert. Er schuf sie neu aus jedem Erlebnis
und entlief der Gefahr der mechanisch bewegten Routine. Er
schuf sich aber nicht nur die Form, er entriß auch das Wort,
„das arme, im Alltag darbende", der Verflachung. Bei ihm ist
jedes Wort aus dem Urerlebnis geboren und steht als einmaliger
Ausdruck. Er konnte es sich leisten, zehnmal Herz und Schmerz
zu reimen, und trug jedesmal ein anderes Erlebnis aus mit dem
unendlichen Hintergrund des Symbols. Er übertrieb auch noch
nicht die tiefere Bedeutung der symbolischen Form, er machte
kein artistisches Kunststückchen daraus, oder gar jene feierliche
Gebärde, welche die von der Kirche beauftragten oder von den
Höfen bestallten Dichter sich zulegten, um ihre eigene Ungläu'
bigkeit, ihren wässrigen Untertanenverstand zu vertuschen. Bei
Villon vollzieht sich jedes schöpferische Erlebnis in der nüchtern'
klaren Sonne des Alltags. Sein Werk ist von allen Seiten bc
greifbar. Bei ihm ist selbst der pornographische Exzeß eine vom
Blut her ins Leben gewachsene Erschütterung vor dem Gött'
liehen im Tierleib. Weil der Begriff Scham für ihn noch in einem
anderen Sinn existierte, als welchen wir ihn deuten, belastet mit
dem Ubersättigungsekel einer auf Irrwege getriebenen Kultur,
konnte er es sich auch erlauben, die animalischen Triebkräfte un^
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