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Und ein wahres Meer von Scheltworten ergoß sich in wahrhaft
fanatischer Weise über jeden Freund eines „anregenden" Glases.
„Anregend! jawohl, aber zu was? zu allem Sündhaften, niedrigem
Tun, zu allen häßlichen fleischlichen Genüssen, nein, pfui! Der Alkohol
erniedrigt den Menschen weit unter das Tier!"
„Aber", meinte ich, nun beim Colonel Olcott Hilfe suchend, „ein
Glas Wein macht doch noch keinen Trinker aus."
Während Olcott überlegen lächelnd sich den langen, schön gepflegten
Bart strich, wandte sie sich nun gegen ihn.
„Was?" rief sie lachend, „Sie alter Sünder, Sie können lachen,
wenn ich meinen heiligen Zorn über ein so abscheuliches Laster ausgieße
!"
„Ich lache über den Schrecken der jungen Freundin hier, die noch
nicht weiß, daß der heilige oder vielmehr fanatische Zorn unserer lieben
H. P. B. viel schlimmer aussieht als er gemeint ist, wenn auch die
Alkohol-Wut eine ihrer ernstesten ist! Aber ich denke doch, es ist da
wie mit der Fleischkost; wer nicht sein höheres Selbst zu schnellerer
Entwicklung bringen will, dem schadet ein Glas Wein lange nicht so
viel als ein böser Gedanke, ein unfreundliches Wort. Auch hat H. P. B.
bei ihrer Erbitterung meist das Branntweintrinken im Auge, das sie in
Rußland und leider auch bei uns in Amerika so viele, sonst edle Menschen
zu Grunde richten sah."
Helena Petrowna nickte beistimmend, ergriff ihr Glas Limonade und
meinte: „Lassen Sie nur auch den Wein beiseite, guter Freund, und bekennen
Sie sich ganz zu diesem Labetrank hier, dann wird alles gut
und leicht!"
Ich ging nachdenklich heim. Was mochte nur hinter dieser höheren
Entwicklung des eigenen Selbst liegen? Ich wollte forschen und hören,
nahm ich mir vor.
Und nicht lange sollte ich zu warten haben. Als ich das nächste
Mal zu Helena Petrowna kam, es war gegen Abend, war sie mit Olcott
allein. Ich war etwas ermüdet und sie fragte mich besorgt, was mir
fehle. Ich erwiderte: „Ach, nichts, ich war nur wieder einmal viel von
meiner grauen Gestalt geplagt und bin davon angegriffen". H. P. B. war
sofort aufs höchste interessiert: „Was ist das mit der grauen Gestalt?"
Von Kind auf habe ich, wenn ich allein bin, das Bewußtsein, als stehe
neben mir, niemals vor mir, eine durchsichtige, graue Gestalt. Nebelhaft
und doch ganz positiv. Sie tut mir nichts, aber sie ist da und ihre
Gegenwart beunruhigt mich. Manchesmal sehe ich sie mir entgegenschweben
, aber gleich ist sie neben mir, über meine Schultern gebeugt,
wenn ich schreibe oder lese und oft ist sie nicht fortzubringen während
langer Stunden."
Meine beiden Zuhörer sahen sich an. Dann fragte mich H. P. B.,
ob ich noch andere Erscheinungen habe oder gehabt hätte. Ich berichtete
, wie ich als Kind einmal, ich mochte wohl acht Jahre alt sein,
aus einem unbeleuchteten Zimmer ein Buch holen wollte. Ich selbst
hatte einen brennenden Wachsstock in der Hand. Als ich das Zimmer
betrat sah ich einen allerliebsten, ganz in Blau und Gold gekleideten
kleinen Knaben am Tische stehen, er war wie eine Elfe so leicht und zart
und hielt ein kleines Flämmchen wie auf der offenen Hand. Als ich eintrat
sah er auf und lief dann um den Tisch herum, ich ihm nach, aber
als ich glaubte ihn am Kittelchen erwischen zu können, verschwand er.
Ich habe ihn oder seines Gleichen nie wieder gesehen. Er war viel
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