http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zb_okkultismus1908/0541
arbeitet, können wir z. B. an einem Redner beobachten, der frei und
fließend spricht und dennoch in derselben Zeit eine Auswahl trifft unter
den Gedanken, die ihm zuströmen.
Jeder, der die Uebungen zur Schulung des Gedankenlebens anstellt,
kommt zu einer bedeutsamen Entdeckung. Er merkt, daß in ihm etwas
lebt, was den ewig wechselnden Inhalt seines Bewußtseins beherrschen,
ja das diesen Inhalt ganz und gar bestimmen kann. Dieses ist von
Bedeutung, denn er fühlt vielleicht zum ersten Mal es deutlich, daß in
ihm ein höheres Prinzip lebt und tätig ist. Geht er nun noch einen
Schritt weiter und benutzt seine Gedankenkräfte, um eine bestimmte
Wirkung zu erzielen, vielleicht um bei einem Unwohlsein auf den körperlichen
Zustand einzuwirken, und er unterstützt auf diese Weise die Heilbestrebungen
in seinem Organismus, so hat er in sich die lebendige
Erkenntnis gewonnen, daß sein wirkliches „Ich" nicht mit dem Körper
identisch ist, daß das, was in ihm sagt: „Ich bin", jenen beherrschen
und als Werkzeug benutzen kann. Solche Einwirkungen sollten aber nun
nicht erst in den Stunden der Krankheit, sondern ständig vorgenommen
werden. Es ist erstrebenswert, allmählich das Gedankenleben ganz unter
die Herrschaft des höheren Ichs zu bringen, wobei zu beachten ist, daß
Gedanken der Sorge und Angst lähmend, Gedanken der Kraft und Ruhe
erhebend und belebend einwirken.
Da aus dem Gedanken die Tat entspringt, so müssen wir unsere
Gemütsbewegungen beobachten, unseren geheimen Wünschen und Neigungen
nachspüren. Sie alle sind Resultate unseres gewohnheitsmäßigen
Denkens. Es gelingt dann auch schließlich, unseren Charakter zu ändern
und unangenehme Leidenschaften auszuwerfen.
Wir müssen uns dessen bewußt sein, daß, wie alles Geschehen
unter bestimmten, unerbittlichen Naturgesetzen steht, so auch alle psychologischen
Prozesse, von denen hier die Rede ist. Durch Uebung wachsen
unsere Fähigkeiten und es entwickelt sich schließlich ein sicherer Automatismus
innerhalb der Denkorgane, der uns garnicht mehr die anfangs
gehabten Schwierigkeiten zum Bewußtsein kommen läßt. Wir lernen
hieraus, daß der Mensch einen weit größeren Einfluß auf sein geistiges
Wachstum und sein Schicksal hat, und damit auch auf das seiner Nachkommen
, als man allgemein annimmt. Im Prinzip ist das hier Dargestellte
auch von einigen Gehirnforschern der naturwissenschaftlichen Schule
anerkannt worden. Prof. Hirth kommt nämlich zur Anerkennung einer
durchaus fortschrittlichen Entwickelungsmechanik und zur Formulierung
eines Entlast.ungsgesetzes, welches er zum Kampf gegen die Degeneration
und erbliche Belastung beachtet wissen will: „Durch individuelle Einübung
bestimmter Hirnprovinzen bilden sich schließlich Nervenbahnen
heraus, welche von so gewaltiger Dauer werden, daß auch bei den Nachkommen
eine anatomische Disposition geschaffen und diese Disposition
von Generation zu Generation vererbt werden muß." — Verständlich
kann dieses Gesetz natürlich nur werden, wenn man eine vom physischen
Körper unabhängige psychische Funktion annimmt.
Gegen die Zeitkrankheit Nervosität, gegen neuropathische Belastung
kann es kein sichereres Hilfsmittel geben als eine geistige Selbsterziehung
auf der geschilderten Grundlage. Wer durch eigene Beobachtung den
Zusammenhang von Gedanken, Gemütsbewegungen und körperlichem
Befinden in sich erfahren hat, kann zu einer individuellen Freiheit gelangen.
„Gefährliche Gedanken sind gleich Giften, die man zuerst kaum
wahrnimmt im Gemüt; allein nach kurzer Wirkung auf das Blut wie
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