Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e. V., Frei122-Z4
Zentralblatt für Okkultismus: Monatsschrift zur Erforschung der gesamten Geheimwissenschaften
5.1911/12
Seite: 501
(PDF, 169 MB)
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die wissenschaftliche Exaktheit seiner Arbeit, als vielmehr der bis dahin unerhörte
Mut, mit welchem dieser Apostat gegen die herrschende Tradition aufzutreten wagte.
Daß sein literarischer Erfolg (einen effektiven hat er nie errungen!) vorwiegend in
der Sensation wurzelte, hat die Zeit gelehrt; denn heute ist seine Mythentheorie ein
überwundener Standpunkt. Wenn daher neuerdings Gelehrte mit der Frage hervortreten
: „Hat Jesus überhaupt gelebt?" so ist das nur eine Auffrischung dieser alten
historischen Richtung mit neuen Mitteln. Die Existenz des Gründers des Christentums
anzuzweifeln ist gleichwertig dem Versuch, dem Sohn den verschollenen Vater
streitig zu machen. Ein Strom dokumentiert durch sich selbst seine Quelle. Und wenn
der alles zersetzenden Kritik schließlich sogar die Existenz Christi zur Frage wird,
so ist das kein Ergebnis exakter Wissenschaftlichkeit, sondern nur ein Experiment.
Wer die Entstehung der vier Evangelien kennt, so wie sie jetzt dokumentarisch und
pragmatisch festgelegt ist, kann nur staunen, wenn immer wieder versucht wird, die
Person des Heilands zum Gegenstand von Erörterungen zu machen, welche an den
Tatsachen der Evangelien nichts zu ändern vermögen. Die auf den ersten Blick allerdings
etwas verwunderliche Erscheinung, daß die Evangelien gerade das Leben und
die äußeren Verhältnisse Jesu ausschalten, beziehungsweise vernachlässigen, also das,
was uns Epigonen nach Jahrtausenden in erster Linie interessiert, bei Seite schieben,
wird heute immer wieder von einer gewissen Sorte Wissenschaftler aufgegriffen und
als Werkzeug benützt, um mit ihm das feste Fundament der Person Jesu zu erschüttern
. Wer tiefer blickt, wird aber mit gleicher Zuversicht dieselbe Waffe zur Hand
nehmen, um den Minengräbern zu demonstrieren, daß die Ur-Evangelien, auf welchen
die kanonischen Evangelien sich später aufbauten, überhaupt keine Biographien waren
und sein wollten, sondern Erbauungsschriften der ersten. Christengemeinden. Daß
diese Andachtsbücher sehr wenig Persönliches über Jesu berichten, ist gerade ein
Beweis dafür, daß die Urgemeinden alles Persönliche so genau kannten und von den
Augenzeugen überliefert erhalten hatten, daß die Evangelisten es niederzuschreiben
nicht für notwendig erachteten. Es ist ganz zweifellos, daß die ersten Christengemeinden
sich über Jesum, sein Leben und Sterben genau so eifrig unterhielten, wie
die Deutschen sich über Kaiser Wilhelm I. unterhielten, als er gestorben war. Alles
war interessant und eben darum jedem bekannt und geläufig, so daß man keiner
Bücher für diese Kenntnisse bedurfte. Heute beginnt sich diese Generation der Wissenden
bereits stark mit Nachwuchs zu mischen, der Wilhelm I. nicht mehr gesehen
hat, und in fünfzig Jahren wird die Generation der Wilhelmkenner ganz verschwunden
sein. Genau so verhält es sich mit den Zeitgenossen jedes Großen, und genau so
wickelten sich die Kenntnisse und Traditionen im Werden des Christentums ab. Als
daher die Evangelien kanonischen Charakter erhalten hatten, waren die ersten wissenden
und unterrichteten Generationen bereits ausgestorben. Aber die Evangelien
durften von den Wenigen, die vielleicht noch Näheres wußten, weder ergänzt noch
korrigirt werden, denn die Evangelien hatten nur kirchlichen Zwecken zu dienen.
So verdünnte und löste sich die biographische Tradition, mischte sich mit Sagenhaftem
und zerfloß schließlich ganz in dem brausenden Wogenkampf der Christenverfolgungen
und späteren Völkerwanderung. Die Lücken der Evangelien sind darum keine
Beweise gegen die Existenz, sondern sie sind Beweise f ü r die Existenz des Heilands.
Was die Evangelisten festlegen wollten und darum aufschrieben, waren einzig die
Lehre, die Tendenz und die Erlösertat Jesu, also sein Werk, das in seiner abstrakten
Reinheit vor den hundert Geistesströmen jener gährenden Zeit gesichert werden
mußte. Die Kenntnisse des rein Persönlichen setzten sie voraus. Sie waren darum
auch gar nicht in der Lage, anzunehmen, daß eine Zeit .kommen würde, welche diese
persönliche Tradition vernichten würde. Wenn trotzdem die Evangelisten dann und
wann auch Persönliches einflochten, so geschah es nicht, um Biographie zu machen,
sondern das Persönliche ergab sich durch den Stoff der Lehre, der vorgetragen werden
sollte. Wir finden darum persönliche Notizen stets nur an solchen Stellen, wo


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