http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zb_okkultismus1914/0095
— 91 —
Damit würde die ganze Bewegung unseres Ich in der Zeit zum sinnlosen
Mummenschanz werden, ein Hin und Her, über dem „die Verneinung
des Willens" zum Leben als der einzige angebliche Stern
über einem Nebelchaos stände, der als ein gleichfalls unverständlicher,
inhaltsleerer Schimmer darüber leuchten würde. Daß die Selbstauf-
heftung des Ich im Selbstmorde etwa das Hauptsächliche oder gar
Einzige sei, was im Erdengange uns erhaben macht über den selbstsüchtig
gemeinen Lebensdrang, und daß im Staube sonst nichts sei,
was uns befähigt, Qutes und Edles zu betätigen und an unserem Teile
auszusäen für die Menschheit, das zu meinen ist keines Menschen
und noch minder eines Philosophen würdig; denn mit der Welt ist
der Mensch überall im Zusammenhange. Ist die Welt für ihn taub und
stumpf, so ist es auch er selber in seiner Seele; denn er gebiert nichts
Hohes aus sich, was er nicht im Verkehr mit der Welt in sich weckte.
So verlangt schon im Erdenwandel unser transcendentales Wesen
seine Tribute für das von ihm gesteckte Ziel. Ob und wie dies überzeitliche
Ziel je erreichbar sei, für welches Kant den „unendlichen
Progressus zur Vollkommenheit4' fordert, das übersteigt als Frage der
Ewigkeit unser Verständnis.
Keine Frage aber ist, daß dieses ewige Ziel in seinem reinsten
Begriffe ein ethisches ist. Wenn wir für das Ich in der Unendlichkeit
der Welt auch die unendliche Mannigfaltigkeit der Einzelwesen
annehmen, so daß die Vollkommenheit nicht in der Einerlei-
h e i t, sondern in der Ausbildung der verschiedenartigsten Anlagen
besteht, durch wrelche jedes Ich von jedem anderen sich unterscheidet,
so muß doch für alle diese Gaben das unveräußerliche und überragende
Ziel das ethische sein, ob sie auch im allerfreiesten
Reichtum und wie von selbst es herbeiführen. Unweigerlich erheischt
das die Zugehörigkeit des vernünftigen Ich zur Gemeine der Völkei
und der Menschheit. Der Mensch ist nicht allein ein „politisches
Geschöpf'4, wie ihn Aristoteles nannte, sondern er ist in seinem höchsten
Begriffe ein ethisches Geschöpf. Dafür wirken alle Gaben des
Ich im Fühlen, Wollen, Denken zusammen, und keineswegs bloß das
Denken ist es, sondern ebenso das Fühlen und Wollen, durch dessen
hochgesteigerte Fähigkeiten der Mensch die Tiere übertrifft. Wenn
wir auch von der törichten und sündhaften gerneinen Verachtung der
Tierwelt uns befreien sollen und eben jetzt dafür einen wichtigen Anlauf
zu nehmen scheinen, würde es nämlich doch das Allerungeschickteste
sein, den durch die Tatsächlichkeit des Geschehens verbürgten
gewaltigen Vorrang des Menschen zu bezweifeln.
Das Fühlen ist das Erste, worin das Ichbewußtsein in sich
und vor sich selbst besteht. Eis ist das ein Lebensgefühl, das
auf leiblicher Naturunterlage die ganze Freude und Freiheit und Fülle
des Bewegens und Handelns hervorbringt. In ihm weitet sicft die
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zb_okkultismus1914/0095