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Aus dem Sprachleben des Wallis
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den sich unter den Bittstellern Leute, die nicht den vierten
Teil einer französischen Predigt verstehen.
Da ist es nicht zu verwundern, dass sich der Begriff Muttersprache
verflüchtigt. Viele Leute aus dem Volk scheinen ihn
gar nicht zu kennen. Wenn ich frage: „Ist der und der ein
Deutscher oder ein Welscher?" so erhalte ich oft zur Antwort
: „er kann beide Sprachen", und die Leute scheinen nur
mit Mühe zu begreifen, dass ich gern wissen möchte, ob ich
den Betreffenden zu den Deutschen oder zu den Welschen zu
rechnen habe.
Man wirft oft die Frage auf, ob die Doppelsprachigkeit
für die Jugend von Vorteil sei oder von Nachteil. Zwei
Meinungen stehen sich da gegenüber. Die einen finden, der
Mensch müsse eine Muttersprache haben, und um denken und
fühlen zu lernen, brauche er für seine Gedanken und Gefühle
auch ein gutes, festes Gewand. Andere behaupten, da Kinder
sehr leicht zwei Sprachen nebeneinander lernten (ich habe in
Algerien Kinder kennen gelernt, die, noch nicht zehn Jahre
alt, französisch, arabisch, spanisch und den vom kastilianischen
sehr abweichenden valencianischen Dialekt, also drei Sprachen
und eine Mundart, geläufig redeten), so sei in es ihrem Interesse,
deren auch gleich zwei zu lernen; sie lassen sich sogar französische
Kindermädchen nach Basel und Berlin kommen und
gehen so weit, dass sie sich ihre Kinder sprachlich geradezu
entfremden, damit sie nur ja frühe zwei Sprachen lernten.
Unsere Deutschen im mittleren Wallis sind meist ebenfalls dieser
Meinung und bilden sich zuweilen viel darauf ein, dass in
ihrem Hause zwei Sprachen heimisch seien. Maßgebend ist
dabei meist der Nützlichkeitsstandpunkt, die Überlegung, dass
man mit zwei Sprachen eher durch die Welt komme als mit
einer. Die Eltern sagen sich: wieviel leichter hätt ich es
gehabt, wenn ich mit 15 Jahren zwei Sprachen gekonnt hätte,
und preisen ihre Kinder glücklich.
Nach meiner Ansicht täuschen sie sich; aber ich gebe zu,
dass ich dabei von einem Standpunkt ausgehe, der dem Volke
schwer zugänglich ist. Nun ja, bequem und nützlich ist es,
von Jugend auf zwei Sprachen zu verstehen. Zuerst ist es auch
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