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Zum geschichtlichen Hintergründe des Nibelungenlieds 105
eng umschriebenen Gebiet angehören, mit einer bestimmten
Person von bestimmbarer Individualität zu verknüpfen. Zwar
hat man schon oft dem Zeugnisse der Klage, dass Pilgrim die
Geschichte vom Untergang der Burgunden durch seinen
Schreiber Konrad habe lateinisch aufzeichnen lassen, so weit
Glauben geschenkt, dass man die Möglichkeit einer solchen
Schrift gnädig zugab und die Notiz nicht als „halbgelehrte
Fabelei" einfach abtat; aber auch im günstigsten Falle verwahrte
man sich gegen jede Nutzanwendung: so die Geschichte
der deutschen Literatur von Golther I S. 46: „Nur
muss man sich davor hüten, diese lateinische Dichtung, über
deren Beschaffenheit wir ja gar nichts wissen können (?), in
unmittelbaren Zusammenhang mit irgend welchen späteren
Nibelungengedichten zu bringen, etwa irgendwo Rückübersetzung
ins Deutsche und dergleichen zu mutmaßen." Hätte
man sich nicht so ängstlich davor gehütet, sondern die Nachricht
ernst genommen und geglaubt, was diesem Aufsatze als
alte Wahrheit vorangestellt ist, so wären wir freilich um
manche einstimmig angenommene Vermutung über die Geschichte
unseres Lieds ärmer, aber der richtigen Erkenntnis
um so viel früher nahe gekommen, und Konrad hätte die
verdiente Stellung in der Literatur längst erlangt, da er sich
nicht als Schreiber, sondern als wirklicher Dichter in seinem
Werke von der Nibelungen Untergang ein bleibendes Denkmal
gesetzt hat. In der Beilage zum Jahresbericht des Wertheimer
Gymnasiums für 1905 hatte ich unter dem Titel
Nibelungennot und Nibelungenlied diesen Zusammenhang zwischen
der Dichtung und ihrem dichterischen Bearbeiter, der
seine Persönlichkeit und individuellen Interessen der Dichtung
für alle Zeit aufgeprägt hat, aufgedeckt.
Es ist seit lange anerkannt, dass das Nibelungenepos in
engster Beziehung zum Donautale, zu Baiern und Österreich
steht. Der ritterliche Geist, der gleichmäßig über dem ganzen
Werke schwebt, der lebensfrohe Ton, der aus den vielen Festbeschreibungen
herausklingt, und die sinnige Art, sich in die
Tiefe des Gemütslebens zu versenken, weisen ebenso bestimmt
auf die planmäßige Bearbeitung durch einen Spielmann hin,
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