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Zum geschichtlichen Hintergrunde des Nibelungenlieds 107
befremdlich scheint; aus derselben Schrift ergab sich die überraschende
Tatsache, dass Markgraf Gelfrat niemand anders
als der mit Pilgrim verfeindete Herzog Heinrich der Zänker
sein könnne; hieraus wurde mit einem Male klar, weshalb Pilgrim
seiner Nichte das Geleite nur bis Mautern geben konnte, weil
östlich davon der Machtbereich der Ungarn-Hunnen vor 985
begann. Das Bild dieses hochbegahten, ehrgeizigen, weitausschauenden
, mit geschichtlichen Studien, wenn auch zu unlauteren
Zwecken sich eingehend beschäftigenden Manns
passt ganz zu einem deutschen Pisistratus, als den ihn die
Klage kennzeichnet. Man lese nur in den Nibelungen Geysa
statt Attila, wo Rüdiger Kriemhilde zur Ehe mit dem Hunnenkönig
bereden will, und wo sich Pilgrim von seiner Nichte
verabschiedet, und man sieht den missionseifrigen Bischof,
der sich in einem Schreiben an Benedikt VII. rühmt, 5000
Hunnen bekehrt zu haben, und hat zugleich den Anblick eines
Königshofs, wo angeblich Christen und Heiden einträchtig
zur Kirche gehen, freilich nicht ebenso einträchtig zusammen
singen. Wie aber der persönliche Feind Pilgrims, der hadersüchtige
Baiernherzog mit dunklen Schatten, so wird sein
Gönner, Leopold von Babenberg, als Dankwart mit ebenso
viel lichten Farben im Liede gezeichnet. Wer aber Bilder,
zu denen persönliche Gunst oder begründeter Hass die Farben
geliefert, so geschickt in eine alte Sage zu verweben versteht
und so treffliche Szenen wie den Nachtkampf an der Donau
und Dankwarts Aristie zu schaffen vermag, der ist kein bloßer
Schreiber, sondern ein echter Dichter, und als ein solcher
muss Meister Konrad von nun an anerkannt werden. Ist er
auch nicht der Verfasser der ganzen Nibelungendichtung, sondern
nur des altertümlichsten Grundstocks, den wir in Kriem-
hilds Rache aufbewahrt finden, so ist er doch auch nicht ein
bloßer Ordner, weil er seinen Stoff als ein einheitliches Ganzes
aufgefasst und durchgeführt haben muss; Episoden haben geschlossene
Dichtungen zur Voraussetzung; denn nur in solche
ist es möglich, Zusätze einzuschalten. Die Kunst aber, sowol
die Fugen unsichtbar zu machen, wie die eigene Zutat dem
Geiste der übrigen Dichtung anzupassen und unlösbar zu ver-
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