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Besprechungen
macht. Auf der anderen Seite war die Haltung der Kirche, ihr Beharren auf überkommenen
Positionen oft genug nicht weniger schroff. Untrennbar mit dem Prinzipienstreit verflochten
war die soziale und machtpolitische Komponente, hier der Herrschaftsanspruch
und der Selbstbehauptungswille einer liberalen Oberschicht gegen die von unten andrängenden
und den Führungsanspruch von Besitz und Bildung in Frage stellenden Kräfte.
Mit Recht hebt daher Stadelhofer in seinem komprimierten Schlußwort hervor, daß in
einem Land wie Baden traditionsgemäß eine protestantisch-liberale Oberschicht eine dominierende
Rolle spielte und sich schließlich „Machtpositionen" bis weit in den Staatsapparat
hinein aufgebaut hatte, die preiszugeben oder mit anderen Gruppen zu teilen sie nicht
bereit war. Ein wesentlicher Aspekt der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen und dies
insbesondere mit dem sich auf die katholische Bevölkerung und parlamentarisch agierenden
politischen Katholizismus war somit deren Alibifunktion im Kampf um die Macht im
Staat9. So gesehen stellt sich zugleich die alte Frage nach Erfolg und Mißerfolg des Kulturkampfs
in neuem Licht. Denn wenn er Teil und Mittel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen
war, wenn er dazu beitrug, die Demokratisierung und Parlamentarisierung
des Reiches zu blockieren, dann wird man ihn trotz der Fehlschläge im einzelnen als recht
erfolgreich bezeichnen müssen.
Zusammenfassend: Mit den drei Arbeiten ist ein gutes Stück der badischen Geschichte
in der Neuzeit aufgearbeitet worden. Jeder der Arbeiten liegt eine Fülle von originalem
Material aus Archiven und privaten Nachlässen zugrunde. Register und Literaturverzeichnisse
befriedigen vollauf, ebenso die Ausstattung durch die Verlage. Wünschenswert noch,
daß die Thematik von Gall, der Liberalismus als regierende Partei, was er ja bis 1918
blieb, im selben Kontext mit der allgemeinen politischen, sozialen und vor allem auch verfassungsrechtlichen
Entwicklung auch für die Zeit des Kaiserreiches bearbeitet wird. Wie
etwa ist das im Bismarckreich singuläre Ereignis einer Koalition von Liberalen, Demokraten
und Sozialdemokraten von 1905 zu bewerten, als ein Stück weg vom System oder als
Absegnung nun selbst durch die Linksparteien, denen es dann auch um nichts anderes gegangen
wäre, als im vorgegebenen Rahmen regierungsfähig zu werden, also Teilhabe an
der Macht durch Anpassung 10.
Abschließend drängen sich noch einige Feststellungen und Fragen auf. Zunächst: Das
Thema Staat und Kirche ist weit enger mit der Gesamtentwicklung der einzelnen deutschen
Staaten verknüpft, als bisher angenommen oder gar dargestellt wurde, ja es kann,
wie vorliegende Arbeiten zeigen, einen eigenen und im Ergebnis erstaunlich ertragreichen
Zugang zum Gesamtgeschehen eröffnen, vorausgesetzt immer, daß der Rahmen entsprechend
weit gesteckt bleibt. Und ein Zweites: Um zum spezifisch „deutschen Konstitutionalismus
" zu kommen, bedurfte es offensichtlich keines Bismarcks und keiner Feudalaristokratie
. Denn hier wurde am liberalsten aller deutschen Länder gezeigt, daß der Weg
dahin zum einen aus den Traditionen und Voraussetzungen des alten Obrigkeitsstaates mit
seiner aufgeklärten Bürokratie und zum anderen aus den dann wohl auch wieder spezifisch
deutschen Prämissen des Liberalismus erfolgte, wobei dann Glanz und Pathos des
aufgeklärten Absolutismus für beide eine nicht unwesentliche nachwirkende Rolle gespielt
haben mögen. Dann geistert durch alle drei Arbeiten die nicht recht greifbare, aber offensichtlich
doch sehr wirksame Erscheinung des „liberalen Katholizismus", bei Stadelhofer
etwa in der Person von Franz Xaver Kraus als Gutachter des Großherzogs in Fragen von
Staat und katholischer Kirche. Da überdies mit dieser Richtung zumal in den süddeutschen
Staaten so bekannte Namen verbunden sind wie etwa Roggenbach in Baden selber,
Hohenlohe und Lutz in Bayern, in etwa auch Mittnacht in Württemberg, und da man
schließlich nicht von ungefähr von einem „System Mittnacht", einem „System Lutz"
spricht, von Systemen, die sich einer Weiterentwicklung zum parlamentarich-demokrati-
schen Staat blockierend in den Weg legten, möchte man wünschen, daß der liberale Katholizismus
doch einmal über die einzelnen Länder hinweg nach Herkunft und politischer
Zielsetzung näher vorgestellt wird. Nach wie vor in Verlegenheit gerät man dagegen bei
einer Frage, die sich an die andere Seite richtet. Wie eigentlich hätten sich Kirche und
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