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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1976/0222
Neues Schrifttum

Stadt während des 14. Jahrhunderts unternommenen Versuche, den von bürgerlichen Leistungen
(wie Steuer, Zoll, Un- und Wachgeld) befreiten Klerus in die steuerpflichtige
Bürgergemeinde einzugliedern, desgleichen mannigfache Berührungspunkte und Überschneidungen
zwischen städtischem und geistlichem Gericht, die ständig zu wechselseitigen
Kompetenzkontroversen führten. Kapitel drei bringt die Rechtsnatur von Pflegschaft,
Schirmherrschaft und Vogtei zur Sprache. Der Verfasser kann einleuchtend machen, daß
sich Rat und Bürger mit Vorliebe und Erfolg dieser Rechtsinstitutionen bedienten, um
Pfarreien, Klöster, Stifte, Siechenhäuser und Spitäler in den Rechtskreis der Stadt einzu-
beziehen. Die strenge Schulung strukturanalytisch betriebener Historie beweisen auch die
Ausführungen des Verfassers über das „wirtschaftliche und soziale Gefälle" zwischen den
einzelnen Stadtpfarreien während des 15. Jahrhunderts, deren stark gestaffeltes Stiftungsvermögen
die soziale Zusammensetzung des jeweiligen Pfarrverbandes widerspiegelt. Kapitel
vier beschreibt „Grundzüge der wirtschaftlichen Verflechtung" zwischen Bürgerschaft
und Kirche im Bereich von Gewerbe, Kapitalmarkt und Grundbesitz, wobei die
Diskrepanz zwischen kirchlichem Zinsverbot und tatsächlichem Finanzgebaren von Kirche
und Klerus alles andere als eine Augsburger Spezialität darstellt. Kapitel fünf veranschaulicht
den sozialen und kulturellen Funktionsverlust der spätmittelalterlichen Kirche. Im
einzelnen geht es dabei um die sukzessive Übernahme von Bildungs- und Fürsorgeaufgaben
durch die Bürgerschaft, die eigene Schulen und Sozialstiftungen errichtete, um Bildungs
- und Fürsorgewesen unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die bürgerliche Stiftungstätigkeit (vgl. Kapitel 6: „Stiftung und Pfründe") illustriert
nicht nur das Heilsverlangen der spätmittelalterlichen Bürgerschaft; sie ist auch ein Indikator
für standesspezifische Beziehungen der besitzenden und deshalb stiftungsfähigen
Bürgerschaft zu den verschiedenen Stiften und Klöstern der Stadt. „Die Franziskaner
konzentrierten sich, als sich die Oberschicht mehr und mehr zurückzog, auf das kleinere
und mittlere Bürgertum, während die Dominikaner und Karmeliter sich überwiegend dem
Großbürgertum kapitalistischer Prägung zuwandten" (S. 268). Kapitel sieben beleuchtet
Auseinandersetzungen geistig aufgeschlossener Bürger mit Theorie und Praxis ihrer Kirche.
Bürgerliche Kirchentreue dokumentierten das Interesse der Bürgerschaft an klösterlichen
Reformen sowie ein wachsendes Bedürfnis nach theologisch gebildeten Prädikanten. Eine
kirchenkritische Haltung zeigte sich in der Kritik am ungeistlichen Lebensstil des hohen
und niederen Klerus, am Ablaßwesen, am Finanzgebaren der römischen Kurie, an suspekten
Reliquien und allzu wunderbaren Erscheinungen. Der Verbindung vermögender Bürger
mit der Amtskirche korrespondierte das Abwandern von religiös ergriffenen Mitgliedern
der städtischen Unterschicht in außerkirchliche Bewegungen und Sekten (Beginen,
Begarden, Gruppe der Jakober, Waldenser, Hussiten).

Ein Modellfall für die Dialektik von Kirche und städtischer Gesellschaft bildet der
in dem abschließenden Kapitel acht erörterte „Streit um die Aufnahme Augsburger Bürger
in das Domkapitel" (1475-1492). Die Augsburger Bürger prozessierten zwar an der römischen
Kurie vergeblich; dennoch ist die vom Verfasser umsichtig nachgezeichnete Kontroverse
geeignet, „das Ineinandergreifen von politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und geistigen Fragen im Spannungsbereich von bürgerlicher Gesellschaft
und Kirche" (S. 323) in der Welt des Spätmittelalters in den Blick zu bringen.

Abschließend bliebe eigentlich nur die Frage zu stellen, weshalb der Autor die Wortverbindung
„bürgerliche Gesellschaft", einen Leitbegriff moderner Staats- und Gesellschaftstheorie
, in den Titel seiner Arbeit aufgenommen hat. Der Begriff „bürgerliche Gesellschaft
" umschreibt, inhaltlich und entstehungsgeschichtlich betrachtet, die vom modernen
Anstaltsstaat abgelöste Tausch- und Wirtschaftsgesellschaft rechtlich gleichgestellter
Staatsbürger, - was die Stadtgesellschaft des spätmittelalterlichen Augsburg nun eben
nicht war. Zur altständischen „societas civilis" gehörten nur die Vollbürger, die städtische
Ober- und Mittelschicht, nicht die unterhalb des Zunftbürgertums anzusiedelnden Unterschichten
(Dienstboten, Taglöhner, Gesellen), die „Beisassen" und „Schutzgenossen", denen
der Genuß des vollen Bürgerrechts versagt blieb. Solange die Ausübung öffentlicher Funk-

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