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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1979/0197
Besprechungen

neuentdeckter Handschriften und Textfassungen zur Diskussion. Sobald sich die Auslegung von
Geschichte auf die solide Grundlage formulierter und überlieferter Aussagen stützen kann, bedarf
sie nicht mehr jener Vermutungen, die bei vieldeutigen Überresten, zum Beispiel archäologischen
Trümmern, künstlerischen Schöpfungen oder volkstümlichen Bräuchen, niemals entbehrlich werden
. Freilich rückt die philologisch-historische Methode in die Mitte des Geschichtsdenkens die
Historiographie, in die Mitte des geistigen Lebens das literarische Werk, in die Mitte des Mittelalters
das politische Ereignis. Sie verdrängt aus dieser Mitte die mündliche Uberlieferung zwischen den
Generationen, die wortlose Verständigung zwischen den Zeitgenossen, die Symbolwelt eingeübter
Lebensformen, obwohl sie zweifellos das Mittelalter beherrschten. Allerdings darf der Ausgangspunkt
der Geschichtswissenschaft begrenzt sein, wenn er nur fest fundiert ist und weite Ausblicke
gestattet. Beides trifft für die Löwe-Festschrift zu. Wer sie auf sich wirken läßt, kann die Historie
nicht mehr säuberlich verschiedenen Instanzen zuweisen, für Hilfswissenschaft und Quellenkunde,
für politische und Kirchengeschichte, für Rechts- und Verfassungsgeschichte, für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte, für Landes- und Stadtgeschichte, für Kultur- und Geistesgeschichte. An
jedem Geschichtswerk kann der Historiker alle diese Aspekte ablesen, wenn nicht als einzelner,
dann in kollegialer Zusammenarbeit. Das hat neben anderen Löwe gelehrt, das haben wie andere die
Autoren der Festschrift gelernt. Das macht sie zu einem beispielhaften Querschnitt durch die
heutige Praxis der Wissenschaft vom Mittelalter, für Spätere vielleicht zu einer historiographischen
Quelle von hohem Rang.

Konstanz Arno Borst

Herbert Grundmann:Ausgewählte Aufsätze. Teil 1-3. Stuttgart: Hiersemann 1976-1978. (Schriften
der Monumenta Germaniae Historica 25, 1-3).

Die ausgewählten Aufsätze Herbert Grundmanns (1902-1970), die hier anzuzeigen sind,
entstammen drei zentralen Arbeitsgebieten des Verfassers - dem Studium religiöser Bewegungen
(Teil 1), der Beschäftigung mit dem kalabrischen Zisterzienserabt Joachim von Fiore (Teil 2), der
Untersuchung von Bildung und Sprache (Teil 3). In einer biographischen Skizze, die der Sammlung
vorangestellt ist, vergegenwärtigt Arno Borst den Lebensweg und das wissenschaftliche Lebenswerk
Grundmanns. Was dem Menschen und Gelehrten Grundmann sein unverwechselbares Gepräge
gegeben habe, sei der Zusammenhang zwischen Leben und Werk, der geglückte Versuch, in der
Geschichte zu leben als »Historiker in seiner Zeit*, folgerichtig und neugierig, selbstbewußt und
bescheiden (1, S. 24).

Mittelalter war für Grundmann kein abseitiges, mit dem Geruch der Verwesung behaftetes
Antiquarium, sondern eine geist-reiche, lebensvolle, vielschichtige Zeit der abendländischen
Geistesgeschichte (1, S. 277). Diese Zeit zu verstehen, erschien ihm unabdingbar, um uns selbst zu
verstehen (2, S. 219). Verfasser wollte wissen, wie das Gewesene wirklich war, weiterwirkte und
einen Bestand an geistigen Gütern hervorbrachte, der der Erforschung, Aneignung und Weitergabe
lohnt. Nichts erschien ihm nutzlos, was auch nur in bescheidenem Maße dazu beiträgt, Werden und
Wandel des menschlichen Geistes verstehen zu lassen (2, S. 57).

Grundmanns Sympathien und Interessen galten den religiösen Bewegungen des Mittelalters,
den Eigenwilligen und Unangepaßten in und außerhalb der Kirche, religiös ergriffenen Individuen,
die aus eingespielten Konventionen ausbrachen, um als Einsiedler und Mönche ein außergewöhnliches
Leben zu führen. Viel Zeit und Kraft widmete er dem geistesgewaltigen Joachim von Fiore (um
1130-1202), dessen spiritualistische Entwürfe in Welt und Kirche viel in Bewegung brachten.
Fragen der Bildungs-und Wissenschaftsgeschichte griff er auf, um über den Beitrag des Mittelalters
für die Entstehung einer gemeineuropäischen und nationalen Kultur aufzuklären.

Kirchliche Gemeinschaftsbildungen, Ketzertum und Häresie sucht Grundmann aus Ausdrucksform
einer geistigen Gesamtbewegung verständlich zu machen. Es geht ihm um die Rekonstruktion
geistesgeschichtlicher Zusammenhänge, aus denen sowohl kirchentreue als auch häretische
Gruppenbildungen hervorgingen. Orden und Sekten konstituieren seiner Ansicht nach einen von
kompromißloser Religiosität getragenen Gesamtvorgang, weshalb es darauf ankommt, auch jene

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