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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1980/0216
Neues Schrifttum

Soziale Hilfe, die Zünfte und Gesellenverbände ihren Mitgliedern schuldeten, war das Praktischwerden
eines korporativen Zusammengehörigkeitsgefühles. Die jeweilige soziale Gruppe hatte
zu helfen bei unverschuldeter Armut, bei Unfall und Krankheit, bei Arbeitslosigkeit und
Erwerbsunfähigkeit im Alter sowie im Todesfall, der nicht nur Begräbniskosten verursachte
sondern auch den Lebensunterhalt der überlebenden Familienmitglieder gefährdete. Die von Zunft
und Gesellenverband gewährten Hilfen waren vielfältig. Sie reichten von der Darlehensgewährung
bis zur direkten Armen- und Arbeitslosenunterstützung, die nicht mehr zurückbezahlt werden
mußte, von der Zahlung eines regelmäßigen Krankengeldes bis zur Einräumung kostenloser
Hospitalplätze, auf die sich Zünfte und Gesellenverbände vertragliche Anwartschaften sicherten,
um alten, armen und pflegebedürftigen Genossen helfen zu können. Finanziert wurden diese
Hilfeleistungen aus Beiträgen, die Zunftmeister und Gesellen in die Kasse ihrer Korporation
einbezahlten.

Das Buch bringt nicht nur Dokumente tätiger Solidarität; es beleuchtet auch subjektive und
objektive Grenzen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Hilfsbereitschaft. Bei »einigen Aemtern
und Gilden«, beklagt die Hannoversche Regierung in einem Edikt des Jahres 1729, herrsche die
»böse Gewohnheit«, »daß wenn bey ihnen Gesellen erkrancken und solche selber nicht Mittel
gehabt sich pflegen zu können, sie von einem Ort und Stadt zur andern als Steuer-Brüder verfahren
werden, bis sie entweder genesen oder gar gestorben«. Die Regierung in Hannover verbietet diese
Praxis, weil es »ein sehr unchristlich Werck« sei, »solchergestalt krancke elende Leute von einem
Ort zum andern, auch wohl zu harter Winters-Zeit zu transportieren und wohl ohne alle Pflege
ohnbarmhertziger Weise crepieren zu lassen« (S. 162).

Soziale Sicherung in der modernen Welt ist effizienter und allgemeiner geworden. Soziale
Sicherung war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Aufgabe eines sozialen Lebenskreises, der in
den Grenzen seiner Hilfsmöglichkeit nicht nur materielle Unterstützung gewährte, sondern auch
aus Anonymität befreite, das Bedürfnis nach Anerkennung befriedige, Kontakte, Kommunikation
und emotionale Geborgenheit vermittelte.

Man kann gegen das Buch einwenden, daß dessen Verfasserin die Vergleichbarkeit zwischen
zeitlich weit auseinanderliegenden Systemen der sozialen Sicherung mitunter überschätzt. Gleichwohl
bleibt es eine eindrucksvolle Leistung, die ein wichtiges Kapitel mittelalterlicher und
neuzeitlicher Sozialgeschichte zur Darstellung bringt. Die Geschichtswissenschaft verfügt über
keine Theorie, die es ihr ermöglicht, die Reichweite historischer Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge
exakt zu bestimmen. Dennoch wird man der Autorin folgen dürfen, wenn sie das
Ergebnis ihrer engagierten Untersuchung in den folgenden Sätzen zusammenfaßt: »Der nahezu
nahtlose Übergang von der zünftigen sozialen Sicherung zur allgemeinen Sozialversicherung zeigt,
daß nicht etwas völlig Neues geschaffen wurde, sondern daß sich lediglich eine Entwicklung
fortsetzte. Die lange und bewährte Tradition der sozialen Sicherung der Mitglieder von Zünften und
Gesellenverbänden hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß in Deutschland relativ früh eine
allgemeine Versicherungspflicht der Arbeiter in einem funktionsfähigen System der Sozialversicherung
eingeführt wurde« (S. 268 f.).

Bielefeld Klaus Schreiner

Aufbruch nach Amerika. Friedrich List und die Auswanderung aus Baden und Württemberg 1816/
17. Dokumentation einer sozialen Bewegung. Hrsg. von Günter Möllmann unter Mitarbeit von
Ingrid Schöberl. Tübingen: Wunderlich 1979. 408 S.

1976 brachte Günter Möllmann den Sammelband heraus: Deutsche Auswanderung im 19.
Jahrhundert: Sozialgeschichtliche Beiträge. Stuttgart: Metzler. (Amerikastudien Band 44). Der
vorliegende Band ist eine Art Ergänzung mit Dokumenten, die unmittelbar an die Thematik
heranführen sollen. Zum Aufhänger nahm Moltmann den Auftrag, den 1816 die württembergische
Regierung dem Rechnungsrat Friedrich List erteilte, nämlich festzustellen, was hinter der plötzlich
in Gang gekommenen Auswanderungswelle steckt. List entledigte sich der Aufgabe, indem er-für

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