http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1983/0220
Neues Schrifttum
schildern zunächst die abwartende Haltung, die die Konstanzer Region in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts gegenüber der Industrialisierung einnahm. Die Ansiedlung der wirtschaftlich aktiven
Juden hätte man lange Zeit abgelehnt, die Gewerbefreiheit mit Mißtrauen betrachtet. Erst in den sechziger
Jahren des 19. Jahrhunderts, als in Baden eine liberale Regierung zum Zuge kam, meldeten sich auch in
Konstanz liberale Fabrikanten, Rechtsanwälte, Journalisten zu Wort, um ihre wirtschaftlichen und
politischen Vorstellungen durchzusetzen.
Das Hauptverdienst des Buches besteht darin, zu zeigen, wie schöpferisch, facettenreich und umfassend
dieser bürgerlich-liberale Aufbruch war. Die Liberalen versuchten durch Vereine, Zeitungen und
öffentliche Versammlungen eine »bürgerliche Öffentlichkeit« im heute leider überholten Sinn aufzubauen
(S. 193 ff.). Um die industrielle Entwicklung, die vom damaligen Hauptenergieträger Kohle abhängig war,
zu fördern, setzten sie sich für Eisenbahnanschluß und Alpenüberquerung ein. Uber den Lukmanier sollten
Güter- und Personenzüge dampfen; der Einsatz für diese Alpenüberquerung in günstiger Reichweite von
Bodenseeraum und Oberschwaben weist interessante Parallelen zu den heutigen Initiativen für einen
Splügen-Tunnel auf.
Der Hauptgegner der industriellen Entwicklung war in den Augen der Liberalen die katholische Kirche
mit dem von ihr beherrschten Stiftungs- und Schulwesen (S. 313ff., 408ff.). Die Stiftungen waren für die
Liberalen totes Kapital, sie wollten damit lieber Kredite finanzieren und Geschäfte machen, um so einen
Wirtschaftsaufschwung einzuleiten. Zudem finanzierte die Kirche mit ihren milden Gaben den von den
Liberalen gehaßten Müßiggang. Anstatt von der Kirche milde Gaben entgegenzunehmen, sollten die
Armen besser durch Fabrikarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Auch die kirchliche Schulaufsicht mit
ihrem Verständnis für den landwirtschaftlichen Jahresrhythmus (Heuferien u. ä.) und für die Probleme der
Armen stand der Durchsetzung neuer Werte im Wege: Die Kinder sollten nach Meinung der Liberalen
gründlich für ihre spätere Berufstätigkeit vorbereitet und vor allem zur Pünktlichkeit und industrieller
Arbeitsdisziplin erzogen werden.
Während sie in der Verkehrspolitik nur wenig Erfolge verzeichnen konnten, gelang es den Konstanzer
Liberalen Schule und Stiftungswesen weitgehend in ihre Hand zu bekommen. Konstanz erhielt die erste
konfessionell gemischte Volksschule Deutschlands; der liberale Bürgermeister Stromeyer wurde von der
verärgerten Kirche exkommuniziert.
Nachdem am Ende der siebziger Jahre die Liberalen auf Landesebene an Einfluß verloren, waren auch
die Tage für deren radikale Konstanzer Parteigänger bald gezählt. Ein lokaler Gründerkrach zur selben
Zeit, der wirtschaftliche Zusammenbruch des von der liberalen Stadtverwaltung initiierten riesigen
Badhotels, läutete das Ende der liberalen Herrschaft am See ein: die bäuerlich-handwerklich orientierten
Konservativen kamen wieder an die Macht. Unter ihnen wurde »Provinz« zu dem, was den heute gängigen
Vorstellungn entspricht: Ein Ort der politischen Ruhe und kulturellen Unbeweglichkeit, scheinbar ohne
größere Konflikte.
In seiner Einleitung und in seinem Nachwort setzt der Herausgeber die wissenschaftliche Entdeckung
der Provinz in Beziehung zu den in letzter Zeit aufkeimenden regionalen Protest- und Kulturbewegungen.
Nach einer bemerkenswerten Schilderung der »Entwicklungslinien der Regionalgeschichtsschreibung in
der Bundesrepublik und in der DDR« (S. 503 ff.), fragt Zang danach, was die Arbeitsgruppe selbst aus ihren
Untersuchungen gelernt hat und resümiert, daß ihr im Lauf der Forschung vor allem »die positiven Aspekte
des Widerstands der traditionellen Produzentenschichten« (S. 518) gegen die Industrialisierung aufgegangen
seien.
Darmstadt Alfred Georg Frei
Hagen Schulze: Weimar: Deutschland 1917-1933. Berlin: Severin und Siedler 1982. 462 S. (Die Deutschen
und ihre Nation, Band 4).
Hagen Schutzes Buch über die Weimarer Republik ist der erste erschienene Teil einer sechsbändigen
Reihe über »Die Deutschen und ihre Nation«, in der die Zeit zwischen 1763 und heute dargestellt werden
soll.
Der Aufbau des vorliegenden Buches über die Jahre 1917-1933 orientierte sich sehr stark am Theater. In
einem ersten Teil, der »Bühne«, werden die Rahmenbedingungen der Republik dargestellt, wie die
geographische, ökonomische und gesellschaftliche Lage, die Parteien und die Verfassung, Bürokraten und
Soldaten, sowie Dichter und Denker. Daran schließt sich das zweite Kapitel an, das »Drama«, in dem die
Entwicklung chronologisch dargestellt wird.
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