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Herbert Rädle
Geschenk Gottes und als sekundären Weg zur Erkenntnis der ewigen Wahrheit preist. Einen
signifikanten Unterschied zu Erasmus macht Grynaeus allerdings, wenn er gerade die
mathematischen Wissenschaften, d.h. Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, als
fundamental betrachtet. Mathematik und Dialektik, so schreibt er im Vorwort zu seiner
Euklidausgabe von 1533 (Fol. a 3 und 4), bildeten die Grundlage aller übrigen Disziplinen. Nur
wenn man beide zusammen betreibe, könne man zur wahren Erkenntnis gelangen: »Die
Dialektik (Logik) entwickelt die denkerischen und sprachlichen Fähigkeiten, aber sie bleibt
solange matt, als sie nicht vom Glanz der mathematischen Disziplinen unterstützt wird«:
{disserendi vis penes dialecticam est quidem, sed obscura tantisper, donec mathematicarum
disciplinarum claritate iuvetur. Fol. a 4r). Der mathematisch geschulte Geist, so heißt es
ebenfalls im Euklid-Vorwort, durchdringe das ganze Universum, das nach denselben Prinzipien
der Einfachheit und Klarheit aufgebaut sei, und er führe uns letztendlich auch zur
Erkenntnis Gottes und seiner Weisheit. Mit dieser Ansicht setzt sich Grynaeus deutlich von der
communis opinio der Humanisten ab, für die die sprachlich-verbale Bildung sonst eindeutig den
Vorrang hat. Grynaeus, als Herausgeber mehrerer mathematisch-naturwissenschaftlicher
Schriften (Euklid, Claudius Ptolemaeus, Proklos Diadochos) ausgewiesener Kenner der
Materie, konnte sich dabei allerdings mit Piaton in Einklang fühlen, den er sowohl lateinisch
(1532) wie griechisch (1534) herausgegeben hatte. Piaton schätzte bekanntlich Mathematik und
Geometrie sehr hoch ein und betrachtete sie als fundamentale Erkenntnismittel (Vgl. Plat.
Politeia 526 a-e).
Um die Frage nach dem Stellenwert eines Unterrichtsgegenstandes geht es auch im Vorwort
der Justinus-Edition, dem wir uns nun zuwenden wollen. Dort äußert sich Grynaeus zu der
Frage, welche Priorität man der Geschichtsschreibung im Kanon der Schullektüre zuzuweisen
habe. Im Gegensatz zur heutigen Praxis, nach der vielfach Cäsar und andere Historiker (etwa
Nepos) als Anfangslektüre Verwendung finden, ist Grynaeus der Ansicht, die Historikerlektüre
sei eher für den reiferen Jugendlichen geeignet. Die Menschen täuschten sich nämlich,
wenn sie behaupteten, die Geschichte sei Lehrerin des Lebens7, wo sie doch lediglich das
Material zum Lernen bereitstelle. Wie das Leben selbst, so sei auch die Geschichte als Abbild des
Lebens voll von Heilsamen und Schädlichem zugleich und verlange daher vom Leser einen
gefestigten Charakter und ein hohes Maß an kritischem Urteil (iudicium). Das Justinus-
Vorwort soll im folgenden erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellt werden, wobei als
Textvorlage das Exemplar der Fürstlich Hohenzollerischen Hofbibliothek Sigmaringen aus
dem Jahr 1573 dient.
Uber den Nutzen der Historikerlektüre.
Simon Grynaeus an den Leser.
I. Wenn es ebenso leicht wäre, die Belehrungen fürs Leben, die die Geschichte bereithält,
auszuwählen und sich anzueignen, wie es sicher ist, daß sie sie bereithält, so wäre ich der
Meinung, daß alle ohne Ausnahme auf dem schnellsten Wege und ohne Zögern sich auf die
üppigen und fruchtbaren Gefilde der Geschichte stürzen sollten. Was nämlich läßt sich
Angenehmeres oder Nützlicheres vorstellen, als im Theater des menschlichen Lebens, das die
Geschichte in allen Rollen hervorragend besetzt hat, zu sitzen und angesichts der Gefahren
anderer ohne eigene Gefahr vorsichtig und weise zu werden; allerlei Exempla8 in sich
7 Vgl. R. Landfester, Historia Magistra Vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie
des 14. bis 16. Jhs. (Travaux d'humanisme et Renaissance 123). Genf 1972.
8 Exempla sind Taten und Verhaltensweisen mit modellhaftem Charakter. Als Modelle praktischen
Verhaltens werden sie den theoretischen praecepta der Philosophie an die Seite gestellt. So wird Geschichte
in der Pädagogik des Humanismus gern unter dem Gesichtspunkt der Gewinnung von Beispielen für
ethisches oder politisches Handeln gelesen. Quintilian war der Antsicht, die Geschichte sei der Philosophie
in ihrem Nutzen für die Bildung sogar überlegen (Quint. Inst. or. XII 2, 29f.).
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